Rolf Gössner: Gedanken und Thesen zum Corona-Lockdown …

Rolf Gössner: Gedanken und Thesen zum Corona-Lockdown …

… eine kongeniale Ergänzung zu unserer Broschüre „Lockdown – nicht nochmal!“, geschrieben aus Sicht eines Juristen und Bürgerrechtsaktivisten.

Der Text erschien zuerst in der Zweiwochenzeitschrift OSSIETZKY Nr. 8 und wurde nun erweitert und aktualisiert (Stand Mitte September) als Broschüre vorgelegt.

Titel: Menschenrechte und Demokratie im Ausnahmezustand. Gedanken und Thesen zum Corona-Lockdown, zu „neuer Normalität“ und den Folgen
Herausgegeben von der Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen e.V. (VDJ) im Ossietzky Verlag (Oktober 2020), DIN-A-5-Broschüre, 52 Seiten, 3 Euro

Das breit aufgefächerte Themenfeld, das Rolf Gössner mit seinen 18 Gedanken und Thesen zum alptraumhaften Corona-Ausnahmezustand und zur »neuen Normalität« aufmacht, soll dazu beitragen, die komplexe und unübersichtliche Problematik der Corona-Folgen einigermaßen in den Griff zu bekommen und bürgerrechtliche Orientierung zu bieten für eine offene, kritische und kontroverse Debatte. Denn die gesellschaftliche Debatte in der »Corona-Krise« hat lange Zeit unter Angst und Konformitätsdruck gelitten und leidet noch immer darunter – auch wenn Zweifel, Kritik und  Gegenstimmen längst lauter geworden sind, sich aber mitunter auch skurril bis gefährlich verirren.
Skepsis und kritisch-konstruktives Hinterfragen vermeintlicher Gewissheiten und autoritärer Verordnungen sind nicht nur angezeigt, sondern dringend geboten – ebenso wie die Überprüfung rigoroser Abwehrmaßnahmen und Grundrechtseingriffe auf Verhältnis- und Verfassungsmäßigkeit. Schließlich kennzeichnet das eine lebendige Demokratie und einen demokratischen Rechtsstaat – nicht nur in Schönwetterzeiten, sondern gerade in Zeiten großer Unsicherheit und Gefahren, die nicht nur aus einer, sondern aus unterschiedlichen Richtungen lauern, gerade in Zeiten, die nicht nur die Gegenwart, sondern in besonderem Maße auch unsere Zukunft schwer belasten.

RA Dr. Rolf Gössner: Pressemitteilung v. 29.10.2020

Zu den neuen Bund-Länder-Beschlüssen vom 28.10.2020:
„Undemokratisches Prozedere und weitgehend unverhältnismäßig“

Bundeskanzlerin und Ministerpräsidentinnen haben es sich in dieser schwierigen Situation sicher nicht leicht gemacht mit ihrer gestern verkündeten Entscheidung. Dennoch fällt das Urteil aus verfassungs- und bürgerrechtlicher sowie aus demokratisch-rechtsstaatlicher Sicht überwiegend negativ aus. Die meisten der gestern beschlossenen, tief in das private Leben der Bevölkerung eingreifenden Maßnah­men scheinen hilflos und wenig begründet, sind weder transparent noch wirklich nachvollziehbar. Sie sollen, wie schon seit Monaten, weitgehend ohne parlamentarische Debatte und ohne parlamentarische Beschlussfassung durch die Exekutive in Bund und Ländern per Verordnungen durchgesetzt werden. Dies ist meines Erachtens angesichts der massiven Eingriffe in elementare Grundrechte und Lebensbereiche verfassungsrechtlich höchst zweifelhaft, zumal diese Eingriffe mit schwerwiegenden sozialen, psychisch-gesundheitlichen und wirtschaftlichen Auswirkungen und Langzeitschäden verbunden sind. Jetzt rächt sich, dass der Bundestag mit der Novellierung des Infektionsschutzgesetzes im März 2020 sich seiner Rechte selbst begeben und weitgehend auf die Regierungen übertragen hat. Das bedeutet eine weitere Verschiebung des politischen Machtgefüges zugun­sten der Exekutive. Bundestag und Länderparlamente müssen jedenfalls endlich stärker an den Beratungen und Entscheidungen über mögliche Corona-Abwehrmaßnahmen beteiligt werden – mit fraktionsübergreifenden Entschließungen ist es nicht getan. Die Videokonferenz-Run­de aus Bundeskanzlerin und Ministerpräsidentin­nen ist jedenfalls kein verfassungsmäßiges Organ, das solche schwerwiegenden Entscheidungen treffen kann, die dann von den Bundesländern ohne parlamentarische Beteiligung verbindlich umgesetzt und im Zweifel polizeilich durchgesetzt werden.
Einzelne der beschlossenen gravierenden Maßnahmen dürften im Übrigen unverhältnismäßig sein – genauer: gegen den Verfassungsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen. Das gilt für die bundesweite Schließung von Gastronomie-Betrie­ben, von Kulturbetrieben wie Theatern, Konzerthäuser und Kinos sowie für das einmonatige Verbot sämtlicher Unterhaltungsveranstaltungen. Diese Maßnahmen basieren auf einer dünnen, vollkommen ungesicherten Datenbasis (zumal die meisten Infektionsquellen bislang ohnehin nicht nachvollzogen und identifiziert werden können): Denn bislang gibt es keinerlei Hinweise oder gar Beweise dafür, dass sich etwa Restaurants, Theater oder Kinos als Infektionsherde herausgestellt hätten – im Gegenteil: Sie spielen auch laut RKI in dieser Hinsicht kaum eine Rolle. Eine Schließung dieser Lokalitäten und Spielstätten ist deshalb nicht zu rechtfertigen – zumal dort strenge Hygienekonzepte um- und durchgesetzt werden. Die Auswirkungen dieses „Lockdowns light“ werden immens sein und mit staatlichen Unterstützungsgeldern allein nicht ausgeglichen werden können.
Auch das Verbot touristischer Übernachtungen in Hotels und Pensionen innerhalb des Bundesgebiets ist nicht nachvollziehbar – es ist die Wiederholung des Desasters mit dem „Beherbergungsverbot“, das mehrfach gerichtlich gestoppt werden musste. Ohnehin sind jetzt wieder die Verwaltungs- und Verfassungsgerichte gefordert, diese Verordnungen und Maßnahmen auf Recht- und Verhältnismäßigkeit zu überprüfen. Mittlerweile hat die Justiz bereits in fünfzig und weit mehr Fällen staatliche Corona-Maßnahmen wegen Rechts- oder Verfassungswidrigkeit aufgehoben. Allein das müsste doch zu denken geben.
Immerhin hat man aus dem ersten Lockdown gelernt, dass Schulen, Kitas und Geschäfte mit Hygieneschutz nicht wieder geschlossen werden. Dass künftig Kranke, Pflegebedürftige, Senioren und Behinderte bestmöglich gegen die sich verschärfende Corona-Krise geschützt werden sollen, ist zu begrüßen und schon lange überfällig – inklusive Corona-Schnelltests in diesen Bereichen, um sichere Kontakte zu ermöglichen.
Bezüglich des Infektionsgeschehens sollte man sich tatsächlich weit mehr Sorgen machen um Gemeinschaftsunterkünfte etwa für Geflüchtete und ausländische Arbeiter*innen, um Alten- und Pflegeheime, Behinderteneinrichtungen sowie um Krankenhäuser. Hier sind besondere Schutzbemühungen und Präventionskonzepte bzw. -maßnahmen für besonders gefährdete Personengruppen notwendig. Sorgen machen sollte man sich auch angesichts fehlenden Personals in Gesundheitsämtern, Krankenhäusern und Pflegeheimen. Hier muss endlich gegensteuert werden – sonst können bei steigendem Bedarf die inzwischen erhöhten Kapazitäten an Intensivbetten und auf Intensivstationen nicht lebensrettend ausgenutzt werden. Es darf nicht wieder passieren, dass – wie im Frühjahr – dringend nötige Operationen verschoben werden (müssen) und dass Menschen deshalb in Lebensgefahr geraten oder sterben.
Bei all dem sollte auch Berücksichtigung finden, was zeitweise in Vergessenheit zu geraten schien: Auch soziale Verwerfungen und gesundheitliche Folgen, die durch rigide Restriktionen unseres täglichen Lebens verursacht werden, müssen in eine verfassungsrechtlich gebotene Abwägung zwischen Freiheitsrechten, Gesundheit und Leben einbezogen werden. Denn das Grundgesetz kennt kein „Su­pergrund­recht Gesundheit“, das alle anderen Grundrechte in den Schatten stellt, genauso wenig wie ein „Supergrundrecht Sicherheit“. Auch die (Über-) Lebenschan­cen (in) einer Gesellschaft, insbesondere auch für sozial benachteiligte Menschen und Gruppen sind bei Rechtsgüter-Ab­wägungen angemessen zu berücksichtigen. Gesundheits­schutz und Freiheitsrechte dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden, Menschenleben nicht gegen Menschenrechte.
Im Übrigen plädiere ich für die Einrichtung unabhängiger interdisziplinärer Kommis­sionen in Bund und Ländern. Deren Aufgabe sollte es sein, die Politik in der „Corona-Krise“ kritisch zu begleiten sowie Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit staatlicher Abwehrmaßnahmen und ihre sozialen, psychischen und wirtschaftlichen Folgen zu evaluieren. Das ist bislang leider weitgehend ausgeblieben. Aus den so gewonnenen Erkenntnissen ließen sich dann Lehren ziehen für eine differenziertere und damit verhältnismäßige Bewältigung der weiteren Corona-Entwicklung und künftiger Epidemien.

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