Übertritt der Krim zu Russland 2014: Selbstbestimmungsrecht oder Annexion?

Übertritt der Krim zu Russland 2014: Selbstbestimmungsrecht oder Annexion?

Unser erster Blog-Beitrag nach Auflösung des KLARtext-Vereins enthält einen chronischen Abriss der zahlreichen Versuche der Krim seit 1991, ihre Selbstverwaltungsrechte auf dem Boden der Ukraine zu stärken bzw. eine Wiedervereinigung mit Russland anzustreben. Der gewaltsame Sturz der Regierung Janukowytsch im Februar 2014 machte alle Hoffnungen auf Anerkennung einer umfangreicheren Autonomie zunichte. Er führte seinerseits zum Sturz der Kiew verpflichteten Regierungsbehörde auf der Krim und zu einem Referendum, das sich klar gegen den Verbleib in der Ukraine und für den Wiederanschluss an Russland aussprach.


Die Einschätzung des Westens, es hätte sich bei dem 2014 erfolgten Anschluss der Krim an Russ­land um eine Annexion gehandelt, war die Begründung für die folgenden Wirtschafts-Sanktionen. Was aber, wenn der Beitritt zu Russland ein legitimer Ausdruck des Völkerrechts in Form des Selbstbe­stimmungsrechts der Völker gegen die Unterdrückung nationaler Minderheiten war?

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Chronischer Abriss der Vorgeschichte1

Der russisch-sprechende Jacques Baud ist ehemaliger Oberst der Schweizer Armee, der u. a. auch Kommandant eines Leopard 2- Panzerbatallions war. Er stand in Diensten der UNO, der NATO (auch auf dem Boden der Ukraine) und des Schweizer Nachrichtendienstes. Baud stellt unseres Wissens zum ersten Mal in vollem Umfang sachlich die Geschichte der Krim seit 1945 dar. Er do­kumentiert vor allen Dingen ihren jahrzehntelangen Kampf, dessen Ziele zwischen einer weitgehen­den Autonomie auf dem Boden der Ukraine und dem Wunsch nach Anschluss an Russland wechsel­ten. Erst als nach dem gewaltsamen Sturz der Regierung Janukowytsch die Ukrainisierung der rus­sischen nationalen Minderheit Programm wurde, fiel in einem Referendum die Entscheidung, aus der Ukraine auszutreten.2 Da die Vorgeschichte des Austritts der Krim aus der Ukraine hierzulande weitgehend verschwiegen oder gar verfälscht wird, beschränken wir uns auf darauf, sie so ausführ­lich wie möglich zu dokumentieren, auch mit Hilfe anderer Quellen als der Angaben von Baud.

19. Februar 1954: Verschenkung der Krim an die Ukraine

Die Abtretung an die Ukraine war ein „Geschenk“ des Präsidiums des Obersten Sowjet der Sowjet­union unter dem Einfluss des Parteichefs Chruschtschow. Die Krim wurde 1783 von Russland erobert. Nach der Oktoberrevoluti­on war sie bis 1954 Teil der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik. Die Krim hatte sich vor ihrer „Verschenkung“ nie unter der Herrschaft Kiews befunden.

Die überwiegend russisch-stämmige Bevölkerung der Krim wurde ebenso wenig gefragt, wie die Sowjets (Räte) der Sowjetunion, der Ukraine und Russlands. Gebiete nach Art von Feudalherr­schern zu verschenken findet heute offensichtlich die Zustimmung der USA, der EU und der ukrai­nischen Regierung. Gebiete zu verschenken – samt ihren dort lebenden Völkern – ist unseres Wis­sens in der UN-Charta nicht vorgesehen und kann somit auch keine völkerrechtlichen Ansprüche begründen.

20. Januar 1991: Volksabstimmung über die Wiederherstellung der Lage vor 1954

Im Zuge des Zerfalls der Sowjetunion hielt die Krim als Region der Ukraine ein Referendum unter der Frage ab: „Sind Sie für die Wiederherstellung der Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik der Krim (ASSR) als Subjekt der UdSSR und als Mitglied des Unionsvertrags?“.

93,6 Prozent der Wahlberechtigten stimmten dem zu. Die Wahlbeteiligung betrug 81,3 Prozent.3

Das Referendum sprach sich nicht nur für die Wiederherstellung der ASSR der Krim als Teil der Sowjetunion aus, sondern auch dafür, dass die Krim Teilnehmer eines neuen Unionsvertrages sein sollte. Der neue Unionsvertrag sollte die Sowjetunion als Union souveräner Staaten neu konstituie­ren. Voraussetzung dafür, dass die Krim als Staat daran beteiligt gewesen wäre, wäre ein Beschluss gewesen, dass sie sich als Autonome Sozialistische Sowjetrepublik konstituiert hätte. Der Unions­vertrag scheiterte jedoch im August 1991 .4 Die Sowjetunion wurde aufgelöst.

Wäre der Unionsvertrag und die Wiederherstellung der Krim als ASSR angenommen worden, „wür­de (das) bedeutet haben, dass die Krim ein souveränes Subjekt einer erneuerten UdSSR gewe­sen wäre, getrennt von der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik.5

Insgesamt 75 Prozent der Krimbewohner stimmten also im Januar 1991 in dieser zeitbedingten Form dafür, dass die Krim als autonome Republik nicht mehr, wie seit 1954, Kiew unterstellt sein sollte. Das Referendum zeigt, dass die Bevölkerung der Krim sich 1991 weit überwiegend nicht als Teil der Ukraine ansahen. Das Ergebnis der Volksabstimmung von 2014 knüpft an 1991 an.

12. Februar 1991: Die Ukraine stimmt dem Wunsch der Bevölkerung der Krim nicht zu

Der Oberste Sowjet derUkraine (USSR), das ukrainische Parlament, stellte zwar die „Autonome Sozialistische Sowjetrepublik Krim“ wieder her6, allerdings nur als autonomen und souveränen Teil der Ukraine (USSR). Ab dem 12. Februar 1991 ist sie in den Augen Kiews als Autonome Sozialisti­sche Sowjetrepublik der Ukraine zugeordnet. Die Ukraine akzeptiert die Unabhängigkeit der Krim nicht.

Im September 1991 erklärte unter diesen Bedingungen auch das Parlament der Krim die staatliche Souveränität der Krim zu einem konstituierenden Teil der Ukraine .7

Anders Jacques Baud: Der Oberste Sowjet der UdSSR habe am 12.2.1991 beschlossen, die Krim ab dem 12.2.1991 als Autonome Sozialistische Sowjetrepublik der Russischen Föderation (d. h. Russ­land) zuzuordnen .8

Was stimmt nun?

17. März 1991: Weiteres Referendum über den neuen Unionsvertrag

Am 17. März 1991 wurde ein Referendum zum Unionsvertrag abgehalten. Es war das erste und einzige Referendum in der Geschichte der Sowjetunion. Zur Abstimmung stand die Frage:

„Halten Sie den Erhalt der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken als erneu­erte Föderation gleichberechtigter souveräner Republiken, in der die Rechte und Freiheiten des Menschen jeglicher Nationalität in vollem Umfang garantiert wer­den, für notwendig?“
–Wortlaut des Referendums am 17. März 1991 in der UdSSR

Das Referendum sollte auf Beschluss des Obersten Sowjet gleichzeitig in allen Unionsrepubliken stattfinden, wurde aber von sechs Republiken boykottiert. Die neun beteiligten Unionsrepubliken umfassten ca. 92,7 % der Einwohner und 98,6 % der Fläche der Sowjetunion.

In der Ukrainischen Sowjetrepublik stimmten bei einer Wahlbeteiligung von 83,5 Prozent 70,2 Pro­zent mit Ja und 28 Prozent mit Nein. In allen neun Republiken stimmten bei einer Wahlbeteiligung von 80 Prozent 76 Prozent mit Ja und 22,1 Prozent mit Nein.9 Die absolute Mehrheit der Bevölke­rung trat also dafür ein, dass Rechte und Freiheiten jeglicher Nationalität in jeder Republik garan­tiert sein sollten, auch in der Ukraine. Da der Unionsvertrag aber noch nicht verabschiedet war, konnte die Autonome Sozialistische Sowjetrepublik der Krim nicht als eigener Staat am Referen­dum teilnehmen. Sie war nur als Teil der Ukraine wiederhergestellt, allerdings auf der Basis der Gleichberechtigung aller Nationalitäten in der Ukraine.

24. August 1991: Parlament in Kiew erklärt die Unabhängigkeit der Ukraine

Über die Unabhängigkeit von der Sowjetunion soll das Volk in einem Referendum entscheiden.

1. Dezember 1991: Referendum für die Unabhängigkeit der Ukraine

Die Unabhängigkeit der Ukraine von der Sowjetunion wird von 90 Prozent der Abstimmenden gut­geheissen. Die Wahlbeteiligung beträgt 84 Prozent. Auf der Krim war die Wahlbeteiligung am nied­rigsten. Fast die Hälfte der Stimmberechtigten bleibt der Abstimmung fern. Viele betrachten die Krim bereits als unabhängig und fühlen sich nicht mehr betroffen. Von der anderen Hälfte stimmen nur 54 Prozent für die Unabhängigkeit der Ukraine, d. h. nur ein Drittel aller stimmberechtigten Krimbewohner.

26. Februar 1992: Kiew gewährt der Krim den Status einer selbstverwalteten Republik

Kiew erkennt weiterhin die Unabhängigkeit der Krim nicht an. Schon am 4. Januar 1991 hatte die Ukraine der Krim den Status „Autonome Republik Krim“ mit dem Recht gewährt, „einen legalen demokratischen Staat innerhalb der Ukraine zu schaffen“.

5. Mai 1992: Die Krim erklärt sich für unabhängig und beschließt eine Verfassung

Die Krim beschließt ein „Gesetz über die Erklärung der staatlichen Unabhängigkeit der Republik Krim“, verabschiedet einen Verfassungsvorschlag, welcher eine Zugehörigkeit der Krim zur Ukrai­ne auf einer konföderativen Grundlage vorsieht und ordnet darüber ein Referendum an.10

Das Parlament in Kiew erklärt das Gesetz für verfassungswidrig. Die Ukraine bietet jedoch Ver­handlungen über einen Sonderstatus der Krim an. Deswegen zieht das Parlament der Krim seine Unabhängigkeitserklärung zurück und setzt die Durchführung des geplanten Referendums aus. „Es konnte ein Kompromiss gefunden werden, der ihr (der Krim) den Status einer autonomen Republik innerhalb der Ukraine verschaffte“.11 Das wurde am 6. Mai 1992 so festgestellt.12Auf ein bereits geplantes Referendum zum Anschluss an Russland wurde damals noch verzichtet“.13

21. Mai 1992: Chruschtschows Geschenk der Krim an die Ukraine verfassungswidrig

Der Oberste Sowjet Russlands erklärt den Beschluss des Obersten Sowjets der UdSSR von 1954, mit dem die Krim der Ukraine zugeordnet wurde, für verfassungswidrig und ‹null und nichtig ab in­itio› (von Anfang an). Die Krim-Frage soll „auf der Basis zwischenstaatlicher Verhandlungen zwi­schen Russland und Ukraine unter Beteiligung der Krim und auf der Grundlage einer Willensäuße­rung ihrer Bevölkerung geregelt werden“.14

16. und 30. Januar 1994: Präsidentschaftswahlen auf der Krim

Juri Meschkow vom Russischen Block erhielt 72,9 Prozent der Stimmen. Er strebte einen Anschluss der Krim an Russland an. Die ukrainische Regierung erklärte die Wahlen auf der Krim für illegal.15

10. April 1994: Absolute Mehrheit des Russischen Blocks bei Regionalwahlen

Der Russische Block unter Juri Meschkow gewann bei den Parlamentswahlen auf der Krim mit 67 Prozent der abgegebenen Stimmen und erreichte 54 der 98 Sitze. Gleichzeitig wurde ein Referen­dum für eine größere Selbstständigkeit der autonomen Republik Krim abgehal­ten. 1,3 Millionen Menschen stimmten ab. 78,4 Prozent unterstützten eine größere Autono­mie in der Ukraine. 82,8 Prozent unterstützen es, eine doppelte russisch-ukrainische Staats­bürgerschaft zu erlauben und 77,9 Prozent begrüßten es, den Dekreten des Präsidenten der Krim Gesetzeskraft zu geben.16 Der ukraini­sche Präsident Krawtschuk erklärte das Referen­dum der Krim für ungültig.17

20. Mai 1994: Parlament der Krim setzt sich erneut für die Verfassung vom 5.Mai 1992 ein

Sie sollte es der Krim erlauben, „selbständig Beziehungen zu anderen Staaten und Organisationen“ einzugehen. Das Regionalparlament der Krim hob am 1. Juni 1994 auf Druck der Regierung in Ki­ew alle Beschlüsse für eine Unabhängigkeit von Kiew wieder auf.

5. Dezember 1994: Budapester Memorandum (Denkschrift) betrifft die Krim nicht

Russland erkannte im Gegenzug für die Abtretung der ukrainischen Atomwaffen an Russland die territoriale Integrität der Ukraine an. Es garantierte zusammen mit den USA und Großbritannien der Ukraine „ihre Sicherheit, Unabhängigkeit und territoriale Integrität“.

Zu diesem Zeitpunkt geht die Krim davon aus, dass sie – de jure – seit Mai 1994 nicht mehr Teil der Ukraine ist und sie daher dieses Memorandum nicht betrifft. Ob ein Memorandum den Charakter eines gesetzlichen Vertrags hat, ist umstritten.18

17. März 1995: „Kiew annektiert de facto die Republik Krim19 .

Kiew beseitigt die Verfassung der Krim vom Mai 1992 und damit auch ihre Autonomie. Ukraini­sche Spezialeinheiten dringen vor. Die Ukraine stürzt den Präsidenten der Republik Krim. Warum? „Die separatistischen Kräfte erhielten … 1994 bei den Parlamentswahlen auf der Krim eine klare Mehrheit, woraufhin … die Zentralregierung zeitweilig sogar die Autonomie der Krim aufhob“.20 Kiew unterstellt die Region seiner direkten Kontrolle und schafft das Amt des Krim-Präsidenten ab. Durch all das werden Demonstrationen des Volkes für eine Angliederung der Krim an Russland aus­gelöst. Westliche Medien haben darüber kaum berichtet.

31. Mai 1997: Freundschaftsvertrag zwischen Ukraine und Russland

Die Sorgen der russischsprachigen Minderheit in der Ukraine führen zu einem Vertrag, in dem Russland die Unverletzlichkeit der Grenzen der Ukraine (territoriale Integrität) anerkennt. Aller­dings nur unter der Bedingung einer Garantie „des Schutzes der ethnischen, kulturellen, sprachli­chen und religiösen Eigenart der nationalen Minderheiten auf ihrem Staatsgebiet“.21 Durch den rus­sophoben Staatsstreich in 2014 enthebt die Ukraine selbst Russland davon, die territoriale Integrität der Ukraine anzuerkennen, d. h. sich auf die Forderung nach einer Autonomie der Krim auf dem Boden der Ukraine zu beschränken.

21. Oktober 1998: Parlament der Krim stellt die Autonome Republik Krim wieder her

Das ukrainische Parlament bestätigte am 23.12.1998 eine neue Verfassung, die die Selbstverwaltung der Republik Krim auf dem Boden der Ukraine wiederherstellte. Der Widerstand gegen die Ab­schaf­fung der Autonomie und die Drohung der Abspaltung der Krim wirkte.

7. Februar 2010: Präsidentschaftswahlen in der Ukraine

In der Stichwahl der Präsidentschaftswahlen stimmten 49 Prozent für Janukowytsch und 45,5 Pro­zent für Julija Timoschenko .22

Auf der Krim traten 79 Prozent für Janukowytsch ein. „Damit setzte sich der Trend fort, dass die Krim für pro-russische und nicht für pro-westliche oder ukrainisch-nationale Kandidaten stimmt, kommentierte Wiki“.23

23. Februar 2014: Gewaltsamer Staatsstreich – Abschaffung des Russischen als Amtssprache

Ein Staatsstreich mit Hilfe von Faschisten, der von den USA und der EU politisch und finanziell un­terstützt wird, stürzt die von den Krimbewohnern überwiegend gewählte Regierung von Janu­kowytsch. Die Empörung über diesen illegalen Akt war groß. Janukowytsch hatte 2012 Russisch als Amtssprache in Gebieten eingeführt, in denen mehr als zehn Prozent der Bewohner russischspra­chig sind.

Die neuen Machthaber jedoch beschließen im Parlament auf Antrag der faschistischen Partei Swo­boda als eine ihrer ersten Handlungen, die russische Sprache als Amtssprache wieder abzuschaffen. Sie kündigen damit auch den Freundschaftsvertrag mit Russland von 1997, der die Anerkennung der Unverletzlichkeit der Grenzen durch Russland von der Garantie des Schutzes der nationalen Minderheiten abhängig machte. Die Krimbewohner gehen auf die Straße und fordern die Rückkehr zu Russland, die sie schon dreißig Jahre zuvor angestrebt hatten. Zwar verschiebt der Übergangs­präsident die Umsetzung des neuen Sprachengesetzes in die Zukunft. Aber das Signal der Staats­streich-Regierung an die russischsprachige Bevölkerung ist eindeutig und verheerend.

Mit dem Staatsstreich wurde die Ukrainisierung aller Einwohner der Ukraine und vor allem die „Entrussifizierung“ der russischsprachigen Bevölkerung Programm. Dazu kam die Absicht, die Be­ziehungen der Ukraine zu Russland weitgehend abzubrechen.

16. März 2014: Volksentscheid über den Austritt aus der Ukraine

Bei einer Wahlbeteiligung von 83,1 Prozent stimmt 96,77 Prozent der wahlberechtigten Krimbevöl­kerung für eine Wiedervereinigung mit Russland. Um die 2 Prozent stimmten für die Wiederherstel­lung der autonomen Republik auf dem Boden der Ukraine, wie am 5. Mai 1992 gefordert. Russland stimmt dem Beitritt der Krim sofort zu. Die verfassungswidrige ukrainische Staatsstreich-Regierung erklärt die Volksabstimmung für verfassungswidrig. Am 10.03.2014 bitten die Behörden der Krim die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) darum, Wahlbeobachter für das Referendum zu schicken. Die OSZE weigert sich mit der Begründung, das Referendum sei ver­fassungswidrig. Den verfassungswidrigen Staatsstreich jedoch erkennt sie an. „Man weigert sich, Wahlen zu beobachten, um sie anschließend als unrechtmäßig bezeichnen zu können“.24

Die Entscheidungen Kiews im Jahr 2014 sind von einer nicht demokratisch gewählten Regierung getroffen worden, die den normalen Gesetzesweg nicht einhielt. Das Ziel des Staatsstreichs, die eth­nischen Russen zu ukrainisieren, die mehr als zwei Drittel der Bevölkerung der Krim stellen, rief verständlicher Weise den Wunsch hervor, die „Scheidung einzureichen“.

1. Dezember 2019: Kündigung des Freundschaftsvertrages mit Russland

Am 1.12.2019 kündigt der vor Selenskij amtierende Präsident Poroschenko den Freundschaftsver­trag aus dem Jahr 1997 (s.o.), der das einzige Rechtsdokument zwischen den beiden Ländern war, in dem Russland die territoriale Integrität der Ukraine anerkannte. Damit kündigte die Ukraine auch die Garantie „des Schutzes der ethnischen, kulturellen, sprachlichen und religiösen Eigenart der na­tionalen Minderheiten auf ihrem Staatsgebiet“ auf.

Fragen und Einschätzungen

Annexion oder Selbstbestimmungsrecht der Völker?

Bei Regierungs- und Konzernmedien sowie bei etlichen Wissenschaftlern herrscht die Ansicht vor, dass der Anschluss der Krim ein Verstoß gegen das Völkerrecht gewesen sei. Das teilen wir so nicht. Zum Völkerrecht gehört auch das Selbstbestimmungsrecht der Völker. „Das Selbstbestim­mungsrecht der Völker ist eines der Grundrechte des Völkerrechts. Es besagt, dass ein Volk das Recht hat, frei über seinen politischen Status, seine Staats- und Regierungsform und seine wirt­schaftliche, so­ziale und kulturelle Entwicklung zu entscheiden. Dies schließt seine Freiheit von Fremdherrschaft ein. Dieses Selbstbestimmungsrecht ermöglicht es einem Volk, eine Nation bzw. ei­nen eigenen natio­nalen Staat zu bilden oder sich in freier Willensentscheidung einem anderen Staat anzuschließen. Heute wird das Selbstbestimmungsrecht der Völker allgemein als gewohnheitsrecht­lich geltende Norm des Völkerrechtes anerkannt.25

Völker haben also das unumstößliche Recht, sich von einem Staat zu trennen, der sie als Nation un­terdrückt. Wäre es illegal, sich von einer unterdrückenden Nation zu trennen, dann wären z. B. alle Unabhängigkeitskriege kolonialisierter Völker gegen die jeweilige Unterdrückernation illegal und damit die Bildung zahlreicher unabhängiger Staaten nach dem ersten und zweiten Weltkrieg. Die Nicht-Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Völker war der Standpunkt der Koloniallän­der. Erst am 16.12.1966 wurde das Selbstbestimmungsrecht der Völker im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte festgeschrieben, der wiederum erst am 23.03.1976 völkerrecht­lich in Kraft trat.26

Ob nationale Minderheiten, die auf einem zusammenhängenden Territorium innerhalb eines Staates leben, der sie unterdrückt, sich trennen oder einem anderen Staat anschließen wollen, müsste immer durch eine Volksabstimmung entschieden werden. Die Trennung der Krim von der Ukraine war ein legitimer Akt des Widerstandes gegen nationale Unterdrückung. Es ist ein legitimes Interesse. dass die Bevölkerung der Krim, nicht von ukrainischen Ultranationalisten und Faschisten unterdrückt werden will, die die Kollaboration ihrer Vorläufer mit dem Hitlerfaschismus als Freiheitskampf preisen. Nach dem illegalen Staatsstreich war das Streben der Krim-Völker nach Selbstbestimmung für die Trennung von der Ukraine entscheidend, nicht eine behauptete militärische Annexion durch Russland. Vor allem weigerte sich der Großteil der 22.000 in der Krim stationierten Soldaten (die gemäß dem Territorialprinzip alle aus der Krim stammten!) dem Befehl aus Kiew zu folgen und mi­litärisch gegen diejenigen vorzugehen, die die Trennung von der Ukraine anstrebten.27 Sie rissen ih­re Abzeichen von der Uniform, um Verwechslungen zu vermeiden und wurden dadurch zu den be­rühmten „grünen Männchen“, aber nicht zu russischen Spezialkräften.28 Auch die Schützen­vereine, die Jäger und die Territorialreserve erhob ihre Waffen nicht gegen die Wiedervereinigung mit Russland.

Militärische Besetzung durch russische Truppen?

Das Abkommen von 2010 mit der Ukraine erlaubt Russland, bis zum zum Jahr 2042 Truppen auf der Krim und in Sewastopol zu stationieren. 2014 waren etwa 20.000 Mann stationiert. Laut Ver­trag durften sie sich außerhalb ihrer Basen nur zu ihrer Sicherheit und der Sicherheit ihrer Ver­bindung zu Russland betätigen.29 Wenn russische Soldaten, wie behauptet wird, ihre zulässigen Be­fugnisse überschritten haben, ändert das nichts daran, dass es keiner militärischen Besetzung und Eroberung der Krim durch russische Truppen bedurfte, um, gestützt auf ein Referendum, den An­schluss an Russland zu beantragen. Reinhard Merkel, ein konservativer Völkerrechtsexperte, lehnt es ab, von einer völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland zu sprechen. Er stellt fest, dass der Austritt nur der Verfassung der Ukraine widersprach.30 In der Tat enthält die Verfassung der Ukraine – im Gegensatz zu der der früheren Sowjetunion – nicht das Recht auf Selbstbestimmung der auf dem Boden der Ukraine lebender Völker, auch in Form einer Trennung. Nach Norman Paech dage­gen, einem renommierten Völkerrechtler, der der Linkspartei angehört, „verletzte jedoch die Ein­gliederung in die Russische Föderation eindeutig die territoriale Unversehrtheit der Ukrai­ne. Das ist zwar keine Annexion, also kein gewaltsamer Gebietserwerb, aber auch der Gebietser­werb ohne physische Gewalt verstößt gegen das Völkerrecht, so er nicht von beiden Seiten im Kon­sens erfolgt. Nicht die Anwendung von Gewalt entscheidet in diesem Fall über die Völkerrechtswid­rigkeit, son­dern die Verletzung der territorialen Integrität“.31 Paech erkennt das Selbstbestimmungsrecht der unterdrückten russischen Minderheit auf der Krim nur an, wenn die unterdrückende ultranationalis­tische Staats­streich-Regierung zustimmt. Eine seltsame Ansicht. Paech stellt allerdings auch fest, dass die Be­völkerung der Krim nicht in die Ukraine zurückkehren will und hofft auf die „normative Kraft des Faktischen“. „Letztlich wird also … das Selbstbestimmungsrecht über das Recht auf terri­toriale In­tegrität siegen, ein Sieg, der allerdings den beschrittenen Weg nicht nachträglich rechtfer­tigt.

Die USA, die EU und die ukrainische Regierung nutzten die angebliche Annexion der Krim durch Russland dazu, einen massiven Wirtschaftskrieg gegen Russland zu beginnen. Er soll wohl dazu beitra­gen, die Voraussetzungen für den Sturz der Regierung Putin zu verbessern.

Baud wirft sowohl der Ukraine als auch Russland vor, das Selbstbestimmungsrecht der Völker nicht zu respektieren. Russland erkennt unter Putin – im Gegensatz und Lenin und der Sowjetunion frühe­rer Jahre – weder die Existenz einer ukrainischen Nation noch das Selbstbestimmungsrecht des uk­rainischen Volkes an. Putin hat es als großen Fehler der Leninschen Nationalitätenpolitik und schließlich der Verfassung der UdSSR bezeichnet, dass sich in deren Folge die Ukraine von der So­wjetunion verfassungsgemäß trennen konnte.

Wir sehen sehr wohl, dass das Völkerrecht durch Russland verletzt wird, weil es einen anderen Staat überfallen hat. Der Überfall Russlands im Februar 2022 war auch mit Annexionen verbunden. Wir sind jedoch nicht der Meinung Bauds, dass es sich um einen legitimen Akt der Selbstverteidi­gung nach Art. 51 der UN-Charta gehandelt hat. Selbstverteidigung ist danach nur zulässig, wenn es einen bewaffneten Angriff auf Russland, einem Mitglied der Vereinten Nationen gegeben hätte. „Diese Charta beeinträchtigt im Falle eines bewaffneten Angriffs gegen ein Mitglied der Vereinten Nationen keineswegs das naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidi­gung, …“ Präventive Kriege gegen vermutete Angriffe sind nach der UN-Charta nicht zulässig.

Aber all das zu erläutern wäre ein neues und längeres Kapitel.


1Eine Chronologie des Verhältnisses von Krim und Ukraine findet sich beim Hohen Flüchtlingskom­missariat der Vereinten Nationen: „Chronology for Crimean Russians in Ukraine“, Minorities at Risk Project/Refworld.org, 2004; http://www.mar.umd.edu/chronology.asp?groupId=36905

2Jacques Baud, Putin Herr des Geschehens, Frankfurt 2023

3ebda., S. 131

4https://de.wikipedia.org/wiki/Neuer_Unionsvertrag (15.10.2023)

5(This would have meant that Crimea would have been a sovereign subject of the renewed USSR[https://en.wikipe­dia.org/wiki/1991_Crimean_sovereignty_referendum#cite_note-iccrimea.org_1-7] and separate from the Ukrainian SSR.[https://en.wikipedia.org/wiki/1991_Crimean_sovereignty_referendum#cite_note-1991_referendum-8]; https://en.wikipedia.org/wiki/1991_Crimean_sovereignty_referendum)

6Baud 2023, 131

7https://en.wikipedia.org/wiki/1991_Crimean_sovereignty_referendum

8Jacques Baud, Ein genauer Blick auf die Annexion der Krim, 3.9.2023, https://www.infosperber.ch/politik/welt/ein-genauer-blick-auf-die-annexion-der-krim/

9https://de.wikipedia.org/wiki/Neuer_Unionsvertrag

10Baud, infosperber 3.9.2023

11Gabriele Krone-Schmalz, Russland verstehen, München 2015, 121

12Baud 2023, 292 Fn 103

13Krone-Schmalz ebda.

14Baud, infosperber 3.9.2023

15https://de.wikipedia.org/wiki/Autonome_Republik_Krim

16eigene Übersetzung: 1,3 million voted, 78.4% of whom supported greater autonomy from Ukraine, 82.8% suppor­ted allowing dual Russian-Ukrainian citizenship, and 77.9% favored giving Crimean presidential decrees the force of law. (http://www.mar.umd.edu/chronology.asp?groupId=36905)

17Wikipedia ebda.

18vgl. https://en.wikipedia.org/wiki/Memorandum_of_understanding

19Baud 2023, 132

20Krone-Schmalz ebda.

21Baud 2023, 133

22https://de.wikipedia.org/wiki/Praesidentschaftswahl_in_der_Ukraine_2010

23https://dewiki.de/Lexikon/Autonome_Republik_Krim

24(Baud 2023, 139

25https://de.wikipedia.org/wiki/Selbstbestimmungsrecht_der_Voelker

26https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/menschenrechtsschutz/deutschland-im-menschenrechtsschutzsystem/vereinte-nationen/vereinte-nationen-menschenrechtsabkommen/zivilpakt-iccpr

27Baud 2023, 136 f.

28Baud 2023, ebda.

29Baud 2023, ebda.

30https://ulrich-heyden.de/article/die-krim-und-das-volkerrecht

31https://www.norman-paech.de/app/download/5811791767/Russland+und+das+Voelkerrecht-10-2018.pdf

2 Kommentare

RR Veröffentlicht am12:48 - 10. November 2023

Im Jahre 2005 ratifizierte auch die Ukraine die Europäische Charta der Regional- und Minderheitensprachen. Sie trat am 1.1.2006 in Kraft (https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/2003/382/de).
Die Ukraine erkannte damit an, „dass das Recht, im privaten Bereich und im öffentlichen Leben eine Regional- oder Minderheitensprache zu gebrauchen, ein unveräußerliches Recht in Übereinstimmung mit den im Internationalen Pakt der Vereinten Nationen über bürgerliche und politische Rechte enthaltenen Grundsätzen darstellt“ (Präambel, ebda.). Ein unveräußerliches Recht ist also auch das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Im Artikel 1 dieses völkerrechtlich verbindlichen Paktes heißt es: „Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung. Kraft dieses Rechts entscheiden sie frei über ihren politischen Status und gestalten in Freiheit ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung“ (https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/Redaktion/PDF/DB_Menschenrechtsschutz/ICCPR/ICCPR_Pakt.pdf)

Die Ukraine schloss sich mit ihrer Unterschrift auch dem Ziel an, „dass der Schutz und die Stärkung der Regional- oder Minderheitensprachen in den verschiedenen Ländern und Regionen Europas einen wichtigen Beitrag zum Aufbau eines Europas darstellen, das auf den Grundsätzen der Demokratie und der kulturellen Vielfalt im Rahmen der nationalen Souveränität und der territorialen Unversehrtheit beruht.“ Die territoriale Unversehrtheit wäre also bedroht, wenn ein Staat diese Charta missachtet. Im Fall vor allem der Sprache der größten ukrainischen Minderheit, der russischen, hat die Ukraine aber genau das getan. Ein gewaltsamer Staatsstreich mit Hilfe von Faschisten führte im Februar 2014 dazu, dass Russisch als Amtssprache vor allem auf der Krim und in der Ost- und Südukraine grundsätzlich abgeschafft wurde. Die Europäische Charta wurde dadurch von Deutschland und der EU insgesamt völkerrechtswidrig gebrochen. Das trug entscheidend zur Rebellion im Donbass und zum Übertritt der Krim zu Russland bei. Um die Ukrainisierung der ethnischen Russen durchzusetzen, begann die Ukraine den Krieg in der Ostukraine mit dem Ziel der Rückeroberung auch der Krim.

Das nationalistische Ziel, alle nationalen Minderheiten in der Ukraine zu ukrainisieren, stößt auch auf den Widerstand der ungarischen Minderheit und Ungarns. „Die Regierung in Budapest knüpft ihre Zustimmung (zum Beitritt der Ukraine zur EU) daran, dass die Minderheit weiter vollumfänglich in ihrer Muttersprache unterrichtet werden darf“ (Ukraine noch nicht am Ziel, FAZ 6.11.2023). Die geltende Rechtslage sieht aber z.B. „eine schrittweise Ukrainisierung des Schulsystems“ vor (ebda.). Ungarn macht also eine Wirtschafts- und Währungsunion gemeinsam mit der Ukraine davon abhängig, dass die ungarische nationale Minderheit nicht unterdrückt wird. Aber wie steht es mit dem Ziel der Ukraine, die inzwischen russische Krim und die russischen Donbass-Republiken militärisch zurückzuerobern, um u.a. deren russische Bevölkerung zu „reukrainisieren“?

webmaster Veröffentlicht am23:40 - 2. November 2023

Nach Eingang einiger Rückmeldungen haben wir einige wenige Stellen ergänzt. Außerdem hier ein post scriptum:
P.S.: Wenn die Trennung der Krim auf dem Boden des Selbstbestimmungsrechts der Völker völkerrechtlich legitimiert ist, sind die Sanktionen, die die USA und die EU als Reaktion auf das Referendum gegen Russland verhängt haben, ein Verstoß gegen das Völkerrecht und damit illegitim. Sanktionen in diesem Fall bedeuten, dass die USA und die EU das Selbstbestimmungsrecht der Völker nicht anerkennen.

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