Diskussion um Grundfreibetrag: kleinkrämerisch und angesichts des Auftriebs der AfD unklug?

Diskussion um Grundfreibetrag: kleinkrämerisch und angesichts des Auftriebs der AfD unklug?

Rainer Roth hat an den DGB-Bundesvorstand zu Händen von Stefan Körtzell geschrieben und um Auskunft gebeten, wie der DGB die Höhe von 11.000 Euro festgesetzt hat und ob der DGB davon ausgeht, dass Erwerbstätige einen Mehrbedarf haben, der steuerfrei zu stellen ist. Im Auftrag von Körtzell antwortete Raoul Didier, der die Fragen nicht beantwortete. Didier erklärte, man solle sich mit anderen Fragen wie z.B. Armut usw. beschäftigen, und über die Festsetzung der Höhe des Existenzminimums zu diskutieren, sei kleinkrämerisch, angesichts des Auftriebs der AfD unklug, Ausdruck von Anmaßung usw. usf. Hier die Mail-Korrespondenz (jüngste Mail zuerst).

Lieber Kollege Didier,

danke für die Zusendung der Stellungnahme des DGB zu einer Anfrage des Bundesverfassungsgerichts vom 2. Juli 2013. Die Stellungnahme kommt zu dem Schluss, dass der Regelsatz von Alleinstehenden in Höhe von damals 374 Euro zu niedrig festgesetzt war und begründet das auf 32 Seiten mit einer Fülle von äußerst detaillierten Darlegungen, die deiner und auch meiner Meinung nach nicht kleinkrämerisch sind.
Aus der Stellungnahme geht allerdings nicht hervor, wie hoch dieser Regelsatz nun nach Auffassung des DGB sein sollte. Deinen Ausführungen entnehme ich, dass der DGB sich nicht auf eine bestimmte Höhe des Eckregelsatzes festlegen möchte, weil es eine Anmaßung wäre, „der Weisheit letzten Schluss“ zu proklamieren. Obwohl ich mir erlaubt habe, lange Jahre mit vielen anderen MitstreiterInnen für einen konkreten Eckregelsatz von mindestens 500 Euro und jetzt nach der Auswertung der EVS 2013 von 600 Euro auszugehen, sehe ich darin keine „Weisheit letzten Schlusses“. Welchen Sinn hat es konkrete, begründete Forderungen als Verkündungen einer absoluten Wahrheit zu verunglimpfen? Ist die Forderung nach 11.000 Euro nicht auch eine konkrete Forderung?
Es ist sehr bedauerlich, dass der DGB für Erwerbslose keine konkrete Regelsatzerhöhung fordern möchte, wohl aber für Erwerbstätige von einer Mindestlohnforderung von 8,50 Euro ausging, die wirklich nicht der „Weisheit letzter Schluss“ ist. Beides (Hartz-IV-Niveau und Mindestlohn) sind untrennbar miteinander verbunden.

Entgegen Deiner Mail äußert sich die Stellungnahme des DGB für das BVerfG zum steuerlichen Existenzminimum überhaupt nicht. Obwohl die Forderung von 11.000 Euro Grundfreibetrag nicht begründet wird, hat sie dennoch eine reale Grundlage. Der DGB hat die Berechnung des steuerlichen Existenzminimums durch das Bundesfinanzministerium immer anerkannt und – so weit ich weiß – auch bisher keine höhere Forderung diesbezüglich aufgestellt. Das steuerliche Existenzminimum setzt sich also auch für den DGB aus dem Regelsatz eines alleinstehenden Erwachsenen und der Warmmiete zusammen.
Dieses Existenzminimum besteht für 2017 aus 409 Euro Regelsatz, 276 Euro Kaltmiete und 50 Euro Heizkosten mtl., zusammen also 735 Euro monatlich und 8.820 Euro jährlich.
Ein Grundfreibetrag von 11.000 Euro jährlich ergibt monatlich rund 916 Euro. Mit diesen 916 Euro können nur die beiden Positionen abgedeckt sein, aus denen sich das steuerliche Existenzminimum offiziell zusammensetzt, Regelsatz und Warmmiete. Wenigstens indirekt enthält also die DGB-Forderung eine Annahme über einen angemessenen Regelsatz und eine angemessene Warmmiete. Da der DGB 409 Euro ebenso für zu niedrig hält wie die 374 Euro früherer Jahre, könnten die 916 Euro also z.B. zerfallen in 500 Euro Eckregelsatz und 416 Euro Warmmiete oder in 460 Euro Regelsatz plus 456 Euro Warmmiete. Auf jeden Fall müssen beide Beträge erheblich höher sein als die der Bundesregierung. Es ist ziemlich merkwürdig, es als Anmaßung abzulehnen, die Höhe eines steuerlichen Existenzminimums zu ermitteln und dann ein steuerliches Existenzminimum von exakt 11.000 Euro anzugeben, das niemals ermittelt worden ist.

Du hast meine wichtigste Frage nicht beantwortet, ob der DGB anerkennt, dass Erwerbstätige gegenüber Erwerbslosen einen Mehrbedarf haben. Ich gehe deswegen davon aus, dass Deine Polemik gegen eine „letztlich vollständig zweifelsfreie Herleitung eines neu zu bestimmenden Existenzminimums“ sich dagegen richtet, einen solchen Mehrbedarf anzuerkennen.
Das BVerfG hat mit seinem Urteil vom 25. September 1992 erklärt: „Zum sozialhilferechtlichen Mindestbedarf zählt … auch der Mehrbedarf für Erwerbstätige, der den mit der Erwerbstätigkeit verbundenen Aufwand abdecken, aber auch den Willen zur Selbsthilfe fördern soll. Dieser Mehrbedarf ist durch die Abziehbarkeit des erwerbsdienlichen Aufwands – der Werbungskosten oder Betriebsausgaben – nicht gedeckt. … Demgegenüber soll der Mehrbedarf … die durch die Erwerbstätigkeit bedingten erhöhten privaten Bedürfnisse abdecken“.
Der Mehrbedarf wurde anschließend 1993 von CDU und FDP mit Zustimmung der SPD in einen Freibetrag umgewandelt, damit er nicht mehr als Bedarf galt und wie schon in den 1980er Jahren besteuert werden konnte. Damals erklärte Joachim Poß (MdB der SPD): „Die Behandlung des Mehrbedarfs für Erwerbstätige als Zuschlag oder Freibetrag vermag doch an der Höhe des Existenzminimums nichts zu ändern“.
Du möchtest über solche wichtigen Fragen keine Diskussion aufkommen lassen und verweist mich darauf, dass ich mich doch besser mit anderen Fragen beschäftigen sollte, z.B. mit sozialstaatlichen Angeboten, mit der Frage der Armut und Ausgrenzung usw. Du nennst die fundierte Bestimmung eines steuerlichen Existenzminimums „kleinkrämerisch“ und damit auch die aufgeworfene Frage des Mehrbedarfs.
Hat es wirklich nichts mit Armut zu tun, wenn selbst ein bescheidener gesetzlicher Mindestlohn von 8,84 €, der ab einer Warmmiete von 381 Euro bei Vollzeitbeschäftigten Hartz-IV-Ansprüche erzeugt, mit Zustimmung des DGB auch nach der Erhöhung des Grundfreibetrags auf 11.000 Euro noch mit Lohnsteuer belegt wird?
Du warnst mich davor, dass Diskussionen über die genaue Bestimmung der Höhe des Existenzminimums der AfD nützen würden bzw. von der BILD-Zeitung a la Florida-Rolf gegen Erwerbslose ausgenutzt werden könnten.
Hat der DGB die Erhöhung des steuerlichen Existenzminimums nur deswegen nicht nachvollziehbar begründet, um der AfD und dem Springer-Konzern nicht in die Hände zu spielen? Wer soll so etwas glauben? Der wirkliche Grund für die fehlende Begründung dürfte vielmehr sein, dass Diskussionen über die Bestimmung der Höhe des Existenzminimum abgelehnt und diffamiert werden, um zu vertuschen, dass der private Mehrbedarf, den Erwerbstätige auf Grund ihrer Erwerbstätigkeit haben (z.B. den an Ernährung usw.) nach Meinung des DGB nicht zum Existenzminimum gehören und damit besteuert werden müssen.

Da ich unseren Mailverkehr nicht für ein privates Vergnügen halte, sondern für einen Gegenstand öffentlichen Interesses, habe ich ihn zur Veröffentlichung freigegeben. Im Anhang noch unsere Plattform für mindestens 600 Euro Eckregelsatz und 11 Euro (steuerfrei) zu Deiner Kenntnis.

Mit kollegialen Grüßen
Rainer Roth
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On 11.01.2017 15:10, Raoul.Didier@dgb.de wrote:

Lieber Kollege Roth,

vielen Dank für Dein Interesse an den steuerpolitischen Eckpunkten des DGB für die Bundestagswahl 2017! Stefan Körzell hat mir Deine Anfrage mit der Bitte um Beantwortung zugeleitet. Dem komme ich hiermit gerne nach.

Die Höhe des steuerlichen Grundfreibetrages, wie ihn der DGB fordert, leitet sich nicht aus einem von uns ermittelten Existenzminimum ab, welches wir für exakt angemessen halten. Im Umkehrschluss ist dies aber nicht gleichbedeutend damit, dass wir die Ermittlung des sächlichen Existenzminimums nach herrschender Rechtslage für richtig, geschweige denn, das ermittelte Existenzminimum selbst  für ausreichend halten. Ganz im Gegenteil! In seiner Stellungnahme zu der Anfrage des Bundesverfassungsgerichts vom 2. Juli 2013, die ich Dir bei Interesse gerne zukommen lasse, hat der DGB ausführlich die wissenschaftlich und sozialpolitisch nicht haltbaren Schwächen bei der Ermittlung des Existenzminimums offengelegt und deutlich gemacht, dass samt und sonders alle beanstandeten Punkte ausschließlich zu einer „Kleinrechnung“ des Existenzminimums führen. Andererseits ist uns aber sehr wohl bewusst, dass es die „einzig wahre“ wissenschaftliche Methodik hierfür nicht gibt und man um Wertungen, was existenziell erforderlich ist, nicht umhin kommt. Der Weisheit letzten Schluss will und kann sich der DGB hier aber gar nicht alleine anmaßen. Hingegen sind wir gerne bereit, uns an einer mit Wissenschaftlern, Gewerkschaften, Sozialverbänden und anderen besetzten Kommission zu beteiligen, die dem Gesetzgeber Vorschläge zur Neufestsetzung unterbreitet.

Zuvor – und das ist mir wesentlich wichtiger – ist aber zu berücksichtigen, dass die Bestimmung des individuellen Existenzminimums auch wesentlich davon abhängig ist, auf welche sozialstaatlichen Angebote die arbeitenden und arbeitssuchenden Menschen vertrauen dürfen. Denn wir sind davon überzeugt, dass beispielsweise Alleinerziehenden mit einer kostenfreien sowie quantitativ und qualitativ besser ausgestatteten Bildungs- und Betreuungsinfrastruktur besser gedient ist, als ihre aus eigener Tasche getätigten Ausgaben steuerlich besser absetzbar zu machen bzw. bei der Ermittlung des Existenzminimums höher zu veranschlagen. Was nicht heißen soll, dass wir dergleichen ablehnen, wir halten sie bloß vor diesem Hintergrund nicht für prioritär. Mit anderen Worten: Wir halten es für zielführender eine Diskussion darüber anzustoßen, wie wir eine Gesellschaft schaffen können, in der Armut und Ausgrenzung wieder an Bedeutung verlieren, anstatt sich untereinander, wie auch mit den Apologeten des Neoliberalismus, kleinkrämerisch darüber zu streiten, was einem Menschen für seine Existenz mindestens zuzugestehen ist. Hier sollte uns nicht zuletzt auch die Florida-Rolf-Kampagne der Bild-Zeitung, wie auch der Auftrieb der AfD, zu Vorsicht und politischer Klugheit mahnen.

Diesen Erwägungen folgen unsere steuerpolitischen Eckpunkte. Mit einer wirksamen Besteuerung von großen Vermögen und Spekulationsgeschäften, einer zeitgemäßen Weiterentwicklung der Gewerbesteuer und einer Reihe weiterer Maßnahmen zeigen wir auf, wie eine solidarischere Gesellschaft finanziert werden kann. Bei unseren Vorschlägen zu Einkommensteuertarif, Entfernungspauschale, Kindergeld und Rückabwicklung der Abgeltungsteuer war es uns wichtig zu zeigen, dass gut 90 Prozent der Steuerpflichtigen z.T. erheblich entlastet werden können ohne in den öffentlichen Haushalten an anderer Stelle wieder Ausgaben streichen zu müssen. Vor diesem Hintergrund war uns bei der Ausgestaltung des Tarifverlaufs der Einkommensteuer klar, dass ein deutlich höherer Grundfreibetrag unumgänglich ist, dessen letztlich vollständig zweifelsfreie Herleitung aus einem neu zu bestimmenden Existenzminimum nicht aber das alleinige Maß aller Dinge sein kann. Diesen Verzicht mag man bedauern. Ungleich höher ist aber m.E. zu bewerten, dass es uns damit gelungen ist, als Gewerkschaften im herannahenden Bundestagswahlkampf auch in der Steuerpolitik ein deutliches Zeichen für eine Umverteilung von oben nach unten zu setzen, an dem sich die politischen Parteien werden messen lassen müssen.

Mit kollegialem Gruß,

Raoul Didier

DGB Bundesvorstand
Raoul Didier
Vorstandsbereich 03
Referat Steuerpolitik,
Abteilung Wirtschafts-, Finanz- und Steuerpolitik
Henriette-Herz-Platz 2
10178 Berlin

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Bitte weiterleiten an die Abteilung Wirtschafts-, Finanz- und
Steuerpolitik und an den Kollegen Körtzell.

Liebe KollegInnen, lieber Kollege Körtzell,

ich begrüße es, dass sich der DGB entschlossen hat, die Erhöhung des steuerlichen Grundfreibetrags von derzeit 8.652 Euro auf 11.000 Euro zu fordern. Eine Erhöhung ist längst überfällig. Die Erhöhung hat den Vorteil, dass sie die unglaubliche Steuerprogression in der Zone bis 13.669 Euro beseitigt.

Wie ihr allerdings auf 11.000 Euro kommt, verstehe ich nicht.

Das steuerliche Existenzminimum wird offiziell ermittelt als Summe des Regelsatzes eines Alleinstehenden und der Warmmiete. Wenn ihr den gegenwärtigen Regelsatz von 409 Euro ab 2017 nehmt, kommt man auf 4.908 Euro. Die Warmmiete wird mit 330 Euro veranschlagt. Das ergibt 3.962 Euro. Zusammen ergibt das 8.870 Euro, wovon 8.652 Euro als Grundfreibetrag anerkannt werden. So der 11. Existenzminimumbericht.

Man kann davon ausgehen, dass ihr die gegenwärtige Grundlage des Regelsatzes nicht für angemessen haltet. Nehmen wir an, ihr haltet 440 Euro für notwendig, wären wir bei 5.280 Euro. 440 Euro sind eindeutig zu wenig. 500 Euro wäre das Minimum. Dann wären wir bei 6.000 Euro. Eine Warmmiete von 330 Euro anzunehmen (bei 30 qm2 Wohnfläche), wie es die Bundesregierung macht, ist unhaltbar. Von welcher Höhe geht ihr bei alleinstehenden ArbeitnehmerInnen als Mindesthöhe aus? Nehmen wir an, ihr geht von 400 Euro warm aus, kommen wir auf 4.800 Euro. Mit der Korrektur dieser Summen in dieser Höhe kommt man zu einem Grundfreibetrag von 5.280 plus 4.800 Euro bzw. 6.000 euro plus 4.800 Euro, also insgesamt 10.080 bis 10.800 Euro. Erwerbstätige haben jedoch gegenüber Erwerbslosen/RentnerInnen einen Mehrbedarf, der früher in der Sozialhilfe auch anerkannt wurde, seit 1996 jedoch nicht mehr. Dieser Mehrbedarf versteckt sich im Freibetrag für Erwerbstätigkeit, der für Personen mit mehr als 1.200 Euro brutto 300 Euro beträgt. Auch wenn ihr nur 200 Euro als Mehrbedarf akzeptieren würdet (in der alten Sozialhilfe war der Mehrbedarf die Hälfte des Regelsatzes – heute also 204.50 Euro) käme man auf eine Summe von 12.080 Euro bis 12.800 Euro je nach der Höhe des Regelsatzes, den der DGB für notwendig hält. Eine Erklärung für 11.000 Euro könnte sein, dass ihr nicht der Meinung seid, dass Erwerbstätige einen Mehrbedarf haben. Trifft das zu?

Ich möchte Euch also bitten, mir zu erklären, wie der Betrag von 11.000 Euro zustandekommt. Im Positionspapier finde ich keine ausreichende Antwort.

Mit kollegialen Grüßen

Rainer Roth

Prof. em. für Sozialwissenschaften an der FH Frankfurt

Falltorstr. 17

60385 Frankfurt

 

 

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