Es ist öfter zu hören, dass mit den Forderungen nach einem Eckregelsatz von mindestens 600 Euro, einem gesetzlichen Mindestlohn von elf Euro (steuerfrei) sowie einer Mindestrente von 1.000 Euro ein Lohnabstandsgebot vertreten und umgesetzt würde. Erwerbslose bzw. RentnerInnen hätten doch die gleichen Bedürfnisse wie Erwerbstätige; einen Unterschied zu machen sei eine Diskriminierung.
Diese Ansicht verkennt, dass das im SGB II (Hartz IV) früher enthaltene Lohnabstandsgebot die untersten Löhne zum unumstößlichen Maßstab für das Regelsatzniveau gemacht hat und damit dessen Senkung zum Ziel hatte. Die oben genannten Forderungen gehen jedoch davon aus, was Menschen zum Leben brauchen. Sie gehen davon aus, dass sowohl die Regelsätze von Hartz IV und der Grundsicherung für RentnerInnen, als auch der gegenwärtige gesetzliche Mindestlohn nicht ausreichen, um Grundbedürfnisse ausreichend zu befriedigen und deswegen deutlich erhöht werden müssen.
Und sie gehen davon aus, dass Erwerbstätige einen höheren Bedarf haben als Erwerbslose und RentnerInnen, einen Mehrbedarf. Wenn abgestritten wird, dass Erwerbstätige einen Mehrbedarf haben, hätte das erhebliche Konsequenzen: der gesetzliche Mindestlohn dürfte nämlich nicht höher sein als das Unterstützungsniveau bei Hartz IV und die Mindestrente.
Was bedeutet „Lohnabstandsgebot“?
Lange Zeit war im früheren Bundessozialhilfegesetz und dann im SGB II (Hartz -IV) ein gesetzliches Lohnabstandsgebot verankert. Es besagte, dass der Sozialhilfe- bzw. Hartz-IV-Bedarf der fünfköpfigen Familie eines Alleinverdieners (Ehepaar und drei Kinder) unter dem Lohn unterer Lohn- und Gehaltsgruppen plus Kindergeld und Wohngeld zu liegen habe, also einen Lohnabstand einzuhalten habe. Die Regierung unter Kohl wollte 1996 diesen Lohnabstand auf 15 bis 20 % erhöhen. Das hätte zu einer bedeutenden Senkung der Regelsätze führen müssen. SozialhilfebezieherInnen und Unterstützer demonstrierten 1996 in Bonn mit etwa 2.000 TeilnehmerInnen dagegen und mobilisierten die Öffentlichkeit. Der Plan, mit Hilfe des Lohnabstandsgebots das Regelsatzniveau erheblich zu senken, konnte wegen des breiten Widerstands nicht durchgesetzt werden. Das Lohnabstandsgebot dümpelte vor sich hin, ohne jemals wieder zur Senkung des Regelsatzniveaus herangezogen zu werden. Es wurde zum 1.1.2011 sang- und klanglos gesetzlich abgeschafft. Die SPD-Grünen-Regierung hatte mit Hartz IV eine geschicktere Methode gefunden, das Regelsatzniveau zu senken.
Das „verstorbene“ Lohnabstandsgebot hatte nie etwas mit der Frage zu tun, welchen Bedarf in welcher Höhe Erwerbslose bzw. Erwerbstätige haben. Es spiegelte das Interesse des Kapitals wieder, das Niveau von Niedriglöhnen zum Maßstab des Unterstützungsniveaus zu machen. Erwerbslose sollten es dank möglichst niedriger Regelsätze als Vorteil empfinden, wenn sie zu niedrigen Löhnen Arbeit fänden. Das Lohnabstandsgebot zielte auf die Senkung des Regelsatzniveaus. Die Frage, ob Erwerbstätige einen höheren Bedarf haben als Erwerbslose, hat mit dem ehemaligen Lohnabstandsgebot nicht das Geringste zu tun.
Oberflächlich betrachtet, scheint es sich mit der Annahme eines Mehrbedarfs für Erwerbstätige dennoch um ein „Abstandsgebot“ zu handeln, nach der Formel: Erwerbstätige müssen mehr haben als Erwerbslose. Weil die Mindestlohnforderung für Vollzeitbeschäftigte eine höhere Summe ergibt als die 1.000 Euro Forderung nach einer Mindestrente und das Hartz-IV-Niveau von alleinstehenden Erwerbslosen, scheinen auch wir für ein „Lohnabstandsgebot“ einzutreten. Der „Abstand“ zwischen Mindestlohn, Hartz-IV-Niveau von Erwerbslosen und Mindestrente ergibt sich aber nicht aus einer Unterbietung des gegenwärtigen Niedriglohns, sondern aus einem höheren Bedarf, den wir Erwerbstätigen zurechnen. Wir halten also keineswegs am früheren gesetzlichen Lohnabstandsgebot fest.
Wir halten vielmehr daran fest, dass das Hartz-IV-Niveau von Vollzeitbeschäftigten dank des Freibetrags für Erwerbstätige von 300 Euro höher ist als das von Erwerbslosen und machen das zur Grundlage für die Bestimmung der Höhe des Mindestlohns (vgl. ausführlich: Rainer Roth, Was ist eigentlich das Existenzminimum, Frankfurt 2017, zu bestellen über www.klartext-info.de).
Worin besteht nun der Mehrbedarf von Erwerbstätigen?
Der Lohn muss letztlich die Unterhaltungskosten von Menschen abdecken, die arbeiten. Ihre Unterhaltungskosten (Reproduktionskosten) sind im Durchschnitt höher als die von RentnerInnen oder Erwerbslosen. Je mehr die Arbeitskraft beansprucht wird, z.B. durch Schichtarbeit, Wochenendarbeit, Überstunden usw., desto höher sind ihre Reproduktionskosten, desto höher muss also der Lohn sein. Wenn die Arbeitskraft nicht oder nicht mehr verkauft wird, entfallen die höheren Kosten, die einer Person entstehen, die ihre Arbeitskraft verkauft hat.
Das wird am Deutlichsten sichtbar, wenn Erwerbstätigkeit mit schwerer körperlicher Arbeit verbunden ist. Bauarbeiter, Stahlarbeiter, Monteure, Installateure, aber auch Bandarbeiter und Akkordarbeiter und viele Andere haben einen höheren Energiebedarf und damit einen höheren Bedarf an Nahrungsmitteln. Diesen Bedarf können sie nur durch höhere Aufwendungen befriedigen. Ferner müssen sie während der Arbeitszeit in Kantinen oder auswärts essen, was wiederum höhere Kosten verursacht. Auch der Bedarf an Körperpflege und Kleidung ist höher. Arbeitsverhältnisse sind mit mehr sozialen Kontakten, Einladungen, gemeinsamen Unternehmungen verbunden. Das Erholungsbedürfnis und die entsprechenden Kosten steigen, je anstrengender und unbefriedigender die Erwerbstätigkeit ist. Aber auch körperlich weniger anstrengende Arbeiten erfordern durch Arbeitshetze, Leistungsdruck, Arbeitszeitverlängerung, Schichtarbeit, Wochend- oder Nachtarbeit höhere Aufwendungen.
Die frühere Sozialhilfe erkannte in der Nachkriegszeit immer an, dass Erwerbstätige einen Mehrbedarf haben. Er betrug bei Vollzeitbeschäftigten die Hälfte des Regelsatzes (heute also 204,50 Euro). Nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1992 sollten Regelsatz, Warmmiete und ein Mehrbedarf für Erwerbstätige als steuerfreies Existenzminimum anerkannt werden. Das BVerfG erklärte ausdrücklich, dass mit dem Mehrbedarf nicht die Werbungskosten gedeckt seien (Fahrtkosten zur Arbeitsstelle, Arbeitskleidung usw.), sondern „die durch die Erwerbstätigkeit bedingten erhöhten privaten Bedürfnisse“ (BVerfG 1992, Rdnr. 58 in Rainer Roth, Edgar Schu, Tobias Weißert: Besteuerung des Existenzminimums?, Frankfurt 2015, 65). Die Werbungskosten dagegen hätten „keinen ins Gewicht fallenden Bezug zum privaten Bereich“ (ebda.).
Um jedoch Mehreinnahmen bei der Steuer in Höhe von vielen Milliarden zu erzielen, hat eine große Koalition aus CDU, FDP und SPD 1993 den Mehrbedarf im Bundessozialhilfegesetz abgeschafft und in gleicher Höhe (!) in einen Freibetrag vom Einkommen umgewandelt. Freibeträge vom Einkommen werden anders als Regelsatz und Warmmiete nicht als steuerfrei zu stellender Bedarf anerkannt. Es handelte sich also um eine offenbar absichtsvolle Umdeklaration in der Sozialgesetzgebung, um höhere Steuereinnahmen zu erzielen.
Im Steuerrecht gab es ab dann keinen Mehrbedarf mehr, Vollzeitbeschäftigte hatten aber nach wie vor durch die Anrechnung eines Freibetrags in Höhe des früheren Mehrbedarfs im Rahmen der Sozialhilfe ein höheres Einkommen als Erwerbslose.
Welche Konsequenzen hätte es, wenn Erwerbstätigen kein Mehrbedarf zugestanden wird?
Dann müsste man für einen gesetzlichen Mindestlohn eintreten in Höhe der Mindestrente von 1.000 Euro, einer Summe, die in ihrer Höhe dem Mindestbedarf von Erwerbslosen entsprechen würde (600 Euro Eckregelsatz plus 400 Euro Warmmiete). Diese Summe erreicht man mit etwa 8 Euro brutto bei einer 38,5 Stundenwoche. Das bestehende mickrige Niveau des Mindestlohns von 8,84 Euro wäre erheblich unterboten.
Dann müsste man dafür eintreten, den Freibetrag für Erwerbstätigkeit abzuschaffen, in den der ursprüngliche Mehrbedarf für Erwerbstätige aufgegangen ist. Erwerbstätigen wäre also zumutbar für einen Lohn in Höhe des Unterstützungsniveaus für Erwerbslose zu arbeiten. Das fördert die Annahme von Armutslöhnen.
Man müsste auch dafür eintreten, dass das steuerliche Existenzminimum für Erwerbstätige und RentnerInnen gleich hoch ist. Der faktisch dennoch bestehende Mehrbedarf würde besteuert.
Es ist nicht anzunehmen, dass diejenigen, die Erwerbstätigen keinen Mehrbedarf zuerkennen wollen, daraus diese reaktionären Schlussfolgerungen ziehen. Sie machen sich nur keinerlei Gedanken darüber, welche Konsequenzen die Umsetzung ihrer Meinung hätte.
Es ist unbestreitbar, dass die gegenwärtigen 409 Euro Eckregelsatz die berechtigten Bedürfnisse von Erwerbslosen nicht ausreichend befriedigen. Deswegen ist eine Erhöhung auf mindestens 600 Euro unerlässlich. Es ist ebenso unbestreitbar, dass die reale Diskriminierung von Erwerbslosen als faul, die nicht nur von Unternehmern und Regierungen, sondern auch von Erwerbstätigen betrieben wird, Abwehrreaktionen erzeugt. Das berechtigte Interesse an einer Erhöhung des Einkommens von Erwerbslosen sollte sich jedoch nicht gegen die berechtigte Erwartung von Erwerbstätigen richten, dass ihr Lohn höher sein muss als das Hartz-IV-Niveau von Erwerbslosen. Die Anerkennung eines Mehrbedarfs von Erwerbstätigen richtet sich nicht gegen Erwerbslose, aber seine Aberkennung richtet sich gegen Erwerbstätige.
Erwerbslose und Erwerbstätige haben gemeinsame Interessen an höheren Regelsätzen, der Einführung einer Mindestrente und einem höheren Mindestlohn. Die Grenzen verlaufen nicht zwischen Erwerbstätigen und Erwerbslosen, sondern zwischen oben und unten.
Rainer Roth 8. März 2017