Zu den Ursachen der gegenwärtigen
Krise der Staatsfinanzen und der Sozialversicherung
Rainer Roth - Vortrag auf
einer Tagung des Komitees für Grundrechte und Demokratie 12.09.2003
Die Veranstalter dieser Tagung
haben mir als Thema "Menschenrechte und die "Krise" des
Sozialstaates" vorgegeben.
Warum steht Krise in Anführungszeichen?
Ich denke nicht, dass es sich um eine Krise handelt, die in Wirklichkeit nicht
existiert. Es ist eine reale Krise. Eher sollte man Sozialstaat in Anführungszeichen
setzen. Denn ein Staat, der den Armen nimmt und den Reichen gibt, kann, wie
Eckart Spoo festgestellt hat, kein Sozialstaat sein.
Genau genommen handelt es sich
auch weniger um eine Krise des Sozialstaates, sondern der Sozialversicherung.
Deren Krise äußert sich darin, dass die Einnahmen der Sozialversicherungen stärker
als zuvor hinter den Ausgaben zurückbleiben. Daraus entstehen
Haushaltsdefizite. 1998 betrugen die Zuschüsse des Bundes, die die Löcher der
Rentenversicherung ausgleichen, 45 Mrd. Euro (33 Mrd. im Westen und 12 Mrd. Euro
im Osten), 2002 waren es schon 66 Mrd. Euro (49 Mrd. Euro im Westen und 17 Mrd.
Euro im Osten). Die Zuschüsse für den Westen sind dreimal so hoch wie die für
den Osten. Die Krise der Rentenversicherung ist also nicht in erster Linie durch
die Wiedervereinigung entstanden. Das Problem liegt im Westen. (Monatsberichte
Deutsche Bundesbank, 8/2003, 59*)
Renten, Krankheitskosten usw.
sind trotz der staatlichen Zuzahlungen aber im Wesentlichen keine
staatliche Leistung. Es sind Versicherungsleistungen, die aus Lohnabzügen
finanziert werden.
Von der Masse der Ökonomen
werden die Ausgaben der Sozialversicherung fälschlicherweise zu den
Staatsausgaben gerechnet und der Kampf zum Abbau der Sozialversicherung als
Kampf zur Verringerung der Staatsquote. Es handelt sich aber im Wesentlichen
direkt um Lohnsenkungen, deren Ausmaße politisch festgesetzt werden.
Die ständigen Pläne, die
steuerfinanzierten staatlichen Zuschüsse zur Sozialversicherung bzw. die übrigen
Sozialausgaben zu senken, vor allem die Sozialhilfe, spiegeln auch nicht in
erster Linie eine Krise des Sozialstaates wieder, d.h. der
Sozialausgaben, sondern die Krise der Staatsfinanzen insgesamt.
Auch diese Krise äußert sich
darin, dass die Staatseinnahmen stärker als zuvor hinter den Staatsausgaben zurückbleiben.
1998 war das Gesamtdefizit der
Gebietskörperschaften noch 28 Mrd. Euro.. Im Aufschwungjahr 2000 gab es seit
langem wieder mal einen Überschuß. Aber im Krisenjahr 2002 beliefen sich die
Haushaltslöcher auf 60 Mrd. Euro.
Die sprunghaft gestiegenen
Haushaltsdefizite von Staat und Sozialversicherung erzwingen Lösungen. Die
vorherrschende Lösung ist der Sozialabbau. Es ist aber eine Scheinlösung, weil
die der Krise zugrundeliegenden Ursachen weiterbestehen und sich verstärken.
Damit kommen wir zu der Frage,
wie die Haushaltsdefizite von Sozialversicherungen und Staat entstehen. Zunächst
scheinen sie ausschließlich ein Ergebnis der Wirtschaftskrise zu sein.
Wachsende Arbeitslosigkeit mit
den entsprechenden Einnahmeausfällen an Beiträgen und Steuern, Druck auf die Löhne
mit denselben Folgen, sinkende Gewinne und Umsätze mit den entsprechenden
Mindereinnahmen an Steuern usw.. sind Erscheinungsformen der Krise.
Was aber sind die Triebfedern
der Wirtschaftskrise? Schon der Begriff selbst sagt, dass es sich um die Krise
der gesamten Wirtschaft handelt, nicht nur um die Krise eines Teils der
staatlichen Haushalte.
Produktivität unter der Regie
des Kapitals führt
1) zu höherer
Arbeitslosigkeit
In den Jahren von 1991 bis
2000, also im letzten Wirtschaftszyklus, nahm die Produktivität von
IndustriearbeiterInnen in Deutschland um 73,1% zu.
Anders ausgedrückt: waren
1991 für die Produktion von inflationsbereinigten Werten in Höhe von z.B. 100
Mio. DM noch 500 ArbeiterInnen notwendig, so waren es 2000 nur noch 290
ArbeiterInnen. Nie zuvor in Nachkriegsdeutschland stieg die industrielle
Produktivität so schnell wie in den 90er Jahren.
In jedem Betrieb sieht man die
ungeheueren Ersparnisse an Produktionszeiten und eine rasante Freisetzung von
Arbeitskräften. In einer Station bei Opel Bochum z.B., in der der Unterboden
mit den beiden Seitenteilen zusammengeheftet wird, arbeitet nach der Einführung
neuer Roboter heute nur noch eine Arbeitskraft statt 50-60 Arbeitskräften
wie noch Mitte der 90er Jahre.
Mit der technischen Revolution
sank die in der Industrie aufgewandte Arbeitszeit in Deutschland zwischen 1991
und 2000 von 9,2 auf 6,3 Mrd. Stunden oder um fast ein Drittel. (Jahresgutachten
des Sachverständigenrats 2002/03, Stuttgart 2002, 461) Phantastisch.
Allein in der westdeutschen
Industrie sank die Zahl der Beschäftigten von 1991 bis 2000 um ein Viertel oder
um 1,7 Millionen Arbeitskräfte. 1,4 Millionen davon waren ArbeiterInnen.
Auch wenn sie auf 20% ihres
Lohns verzichtet hätten oder die sogenannten Lohnnebenkosten erheblich gefallen
wären, wären sie überflüssig geworden. Der technische Fortschritt macht es möglich.
Da die moderne Technik vor
allem unter ArbeiterInnen aufräumt, sind rd. zwei Drittel der Arbeitslosen
ArbeiterInnen. Arbeitslosigkeit ist vor allem ein Arbeiterproblem. Die
registrierte Arbeitslosigkeit von ArbeiterInnen war im Jahr 2000 14,2%. (nach
Bundesanstalt für Arbeit (Hg.), Arbeitsmarkt 2001, Nürnberg 2002, 142, 192 -
eigene Berechnung) Bei den Angestellten war die Arbeitslosenquote 6,4%.
Die Möglichkeiten der
Arbeitszeitverkürzung haben mit der technologischen Revolution erheblich
zugenommen. Aber unter der Regie des Kapitals drückt sich der geringere Aufwand
an notwendiger Arbeitszeit statt in kollektiver Arbeitszeitverkürzung in
wachsender Arbeitslosigkeit aus.
Arbeitszeitverkürzung verkürzt
nämlich die Zeit, in der Mehrwert produziert werden kann. Sie erhöht ferner
die Zahl der Arbeitsplätze und damit dem Umfang des benötigten Sachkapitals für
Maschinen, Anlagen und Gebäude. Sie senkt also die Profitraten.
Je mehr jedoch die Profitraten
unter Druck stehen, und das ist der Fall, desto mehr wächst die Tendenz, die
Arbeitszeit zu verlängern. Die tatsächliche Jahresarbeitszeit einer
Vollzeitkraft ist nach Angaben der
IG Metall von 1991 bis 2000 von 1.604 auf 1.640 Stunden gestiegen. Das Kapital
strebt die Wiedereinführung der 40 Stunden-Woche an, wie sie vor 20-30 Jahren
üblich war. Natürlich ohne Lohnausgleich.
Da das Kapital die Arbeitszeit
trotz revolutionärer Produktivitätsfortschritte verlängert, lag die
Arbeitslosigkeit in Deutschland auf dem Höhepunkt des Aufschwungs (im Jahr
2000) zum ersten Mal in Nachkriegsdeutschland höher als im Tiefpunkt der
letzten Krise (1993).
Was für ein Schwachsinn, um
mit Rudi Völler zu sprechen.
Während die Möglichkeiten für
ein leichteres und schöneres Leben, für eine drastische Arbeitszeitverkürzung
für alle steigen, verwendet das Kapital die Produktivität, um mehr Menschen für
überflüssig zu erklären als je zuvor und dem verbleibenden Rest längere
Arbeitszeiten und einen höheren Arbeitsstress aufzuzwingen. Ob die Arbeitszeit
verkürzt oder verlängert wird, ist vor allem eine Frage der Kampfkraft der
LohnarbeiterInnen. Eine drastische Arbeitszeitverkürzung mit dem Ziel 30
Stundenwoche bei vollem Lohnausgleich steht auf der Tagesordnung.
Produktivität unter der Regie
des Kapitals führt
2) zur Krise der
Sozialversicherungen
Die steigende Produktivität
ist es, die unter der Regie des Kapitals auch die Grundlagen der
Sozialversicherungen untergräbt.
Nehmen wir die
Rentenversicherung als Beispiel:
Die Krise der
Rentenversicherung ist in erster Linie eine Krise der Arbeiterrentenversicherung.
Die Einnahmen aus den
Sozialversicherungsbeiträgen zur Arbeiterrentenversicherung sind in Deutschland
von 1991 bis 2000 um nicht einmal 18 Mrd. DM gestiegen. Die Ausgaben für
die Arbeiterrenten aber im selben Zeitraum um 81 Mrd. DM.
Ursache: Die Industrie hat in
Gesamtdeutschland in diesem Zeitraum zwei Millionen ArbeiterInnen abgebaut bzw.
ein Drittel aller ArbeiterInnen. (Jahresgutachten des Sachverständigenrats
2001/2002, Stuttgart 2001, 427) Die Zahl der Pflichtversicherten sank ebenfalls
um zwei Millionen. Gleichzeitig stieg aber der Rentenbestand in der
Arbeiterrentenversicherung um über 2 Millionen Personen Rentenversicherung in
Zeitreihen, Verband Deutscher Rentenversicherungsträger, Frankfurt Juli 2002,
142)
Arbeitslosigkeit ist heute für
etwa 20% der Arbeitslosen, eben die Älteren, eine Art Vorruhestand und die
Rente ist andererseits für viele weitere eine Form der versteckten
Arbeitslosigkeit.
Der Bund ist der Puffer, der
die von der Kapitalverwertung verursachte Krise der Sozialversicherung abfedert.
1991 schoss der Bund 34 Mrd.
DM in die Arbeiterrentenversicherung zu und zahlte durchschnittlich ein Viertel
einer Arbeiterrente.
Im Jahre 2000 waren es schon
sagenhafte 83 Mrd. DM oder fast 40% einer Arbeiterrente. (Bundesministerium für
Arbeit, Materialband Sozialbudget 2001, Bonn 2002, 59 und 71)
Die Krise der
Arbeiterrentenversicherung ist ein wichtiger Grund, weshalb die Staatsfinanzen
selbst immer mehr in die Krise geraten.
Die Langzeitarbeitslosigkeit wächst,
in der sich vor allem Ältere und Frauen, sowie Schwerbehinderte und
gesundheitlich angeschlagene ArbeiterInnen sammeln. Etwa die Hälfte der
Arbeitslosen ist langzeitarbeitslos. So eine Erhebung des Statistischen
Bundesamtes aus dem April 2002. (FR 12.09.2003) Hieraus speist sich auch die
Masse der SozialhilfebezieherInnen, die die unterste Schicht der Arbeitslosen
stellen. Das Kapital spuckt sie aus und gibt ihrer Faulheit gleichzeitig die
Schuld, dass sie immer weniger gebraucht werden.
Die überwiegende Mehrheit der
erwerbsfähigen Menschen sind LohnarbeiterInnen. Sie leben davon, dass sie eine
Ware namens Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt verkaufen.
Mit steigender Produktivität
und sinkender Nachfrage nach Arbeitskraft wird "schlechte" Ware
Arbeitskraft, d.h. Arbeitskraft, aus der man zu wenig Mehrwert ziehen kann,
immer mehr aussortiert.
Die Kosten für
Langzeitarbeitslose, d.h. für Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe für
Arbeitslose, die beide aus Steuermitteln bezahlt werden, sind deshalb ebenfalls
im Laufe der Zeit gestiegen. Die Haushaltslöcher der Arbeitslosenversicherung
und der entsprechende Zuschussbedarf durch den Bund steigen deshalb tendenziell
ebenfalls.
Produktivität unter der Regie
des Kapitals führt
3) zur Krise der
Staatsfinanzen
Das Kapital treibt mit
wachsender Produktivität nicht nur die Staatsausgaben in die Höhe.
Gleichzeitig unterwühlt es auch die Staatseinnahmen. Die größte Steuerreform
aller Zeiten hat in den Jahren 2001 und 2002 allein bei der Körperschaftssteuer
zu Steuerausfällen von jährlich 20 Mrd. Euro geführt. Nicht gerechnet die
Steuerausfälle bei der Gewerbesteuer und der veranlagten Einkommenssteuer, die
sich auf rd. 4-5 Mrd. Euro jährlich belaufen dürften. Auch die Steuerausfälle
aus der Streichung der Vermögenssteuer mit ihren 4,5 Mrd. Euro sind nicht zu
verachten.
Die Steuerausfälle zugunsten
des Kapitals haben die Krise der Staatsfinanzen ab 2001 und 2002 verschärft.
Aber auch wenn es alle diese Steuersenkungen in Höhe von 30 Mrd. Euro jährlich
nicht gegeben hätte: die Haushaltsdefizite hätten sich 2001 und 2002
allenfalls halbiert. Sie haben ihre Grundursache nicht in der Steuerreform.
Produktivität unter der Regie
des Kapitals führt
4) zu einer Tendenz des Falls
der Profitraten
Die Gewinnsteuersenkungen
selbst sind letztlich ebenfalls auf die Folgen der gestiegenen Produktivität
unter der Regie des Kapitals zurückzuführen.
Die technische Entwicklung
senkt den Bedarf an Arbeitskraft. Damit vermindert sie aber auch die Zahl
derjenigen, die den Mehrwert produzieren, den sich das Kapital als Gewinn
aneignen kann.
Gleichzeitig vermehrt sie mit
den Investitionen den Teil des Kapitals, das Sachkapital, das selbst keine
Gewinne abwirft, sondern nur seinen Wert auf die Produkte überträgt.
Indirekt sichtbar wird das
daran, dass der Anteil der Bruttolöhne und Gehälter am Umsatz z.B. der
Metallindustrie von 1991 bis 2000 von 22,4% auf 19,3% gefallen ist.
(Jahresgutachten des Sachverständigenrats 2002/03, Stuttgart 2002, 425, 459)
Auch die Realisierung des
Mehrwerts wird schwieriger. Mit wachsender Produktivität werden immer mehr
Produkte erzeugt. Die zahlungsfähige Nachfrage aber bleibt durch die
Freisetzung der Arbeitskräfte, die Rückwirkung der Arbeitslosigkeit auf die Löhne,
die Krise der Sozialversicherung und der Staatsfinanzen relativ dahinter zurück.
Produzierte Waren können in wachsendem Maße nicht verkauft werden oder nur mit
Preisabschlägen. Das drückt die Profite und damit die Profitraten, also das
Verhältnis des Profits zum investierten Kapital.
Zwar wachsen die Gewinne
nachwievor. Aber sie wachsen aus diesen beiden Gründen tendenziell nicht im
selben Verhältnis wie das investierte Kapital. Die Profitraten fallen
langfristig.
Der Sachverständigenrat nennt
dieses merkwürdige Phänomen "sinkende Kapitalproduktivität".
Auf ein- und dieselbe Summe an investiertem Sachkapital entfällt relativ immer
weniger Gewinn. Die Kapitalproduktivität ist nach Angaben der Bundesbank von
1992 bis 2001 jährlich etwa um 1% gefallen. (Monatsberichte der Deutschen
Bundesbank 9/2002, 53)
Nach Angaben der Bundesbank
waren die Nettoumsatzrenditen von Produzierendem Gewerbe, Handel und Verkehr in
Westdeutschland im Jahr 2000 mit etwa 2 % genau so hoch waren wie 1991. Und
niedriger als in den 80er, 70er oder 60er Jahren. Wohlgemerkt netto, d.h. nach
Steuern. Nur weil die Gewinnsteuern in den 90er Jahren deutlich gesenkt wurden,
konnte die Nettoumsatzrendite gehalten werden, sonst wäre sie gefallen.
Der langfristige Fall der
Profitraten übersetzt sich in langfristig sinkende Gewinnsteuersätze. Sinkende
Gewinnsteuern wirken dem Fall der Nettoprofitraten entgegen. Ob
Gewinnsteuersenkungen durchgesetzt werden können, ist immer auch eine
politische Frage. Sie setzen sich nicht automatisch durch, nur weil das Kapital
ein Interesse daran hat. Da Gewinnsteuersenkungen letztlich mit Sozialabbau
refinanziert werden, haben die LohnarbeiterInnen ein massives Interesse daran,
dass die Gewinnsteuern nicht sinken. Die DGB-Führung jedoch hat, da sie von den
Interessen des Kapitals ausgeht, die Steuerreform mitgetragen und damit dazu
beigetragen, dass sie durchgesetzt werden konnte.
Die steigende Produktivität
untergräbt also die Ausgaben und die Einnahmeseite der Staatsfinanzen und stürzt
sie unter der Regie des Kapitals in die Krise.
Produktivität unter der Regie
des Kapitals führt
5) zu Wirtschaftskrisen
Alle Widersprüche, die der
Produktivitätsentwicklung unter der Regie des Kapitals innewohnen, explodieren
von Zeit zu Zeit in Wirtschaftskrisen. Niemand will Krisen und sie kommen
dennoch. Sie brechen aus wie eine Naturkatastrophe und sind doch nur die
unvermeidliche Ergebnisse eines von Menschen eingerichteten Wirtschaftssystems,
in dem der Mensch noch nicht die Kontrolle über die Folgen seines Handels hat,
also noch in Unfreiheit lebt.
Das Kapital treibt die
Produktion regelmäßig weit über die zahlungskräftige Nachfrage hinaus, die
es immer mehr beschränkt. Überproduktion und Überkapazitäten werden in
Krisen auf das Maß zurückgefahren, das mit den beschränkten privaten
Profitinteressen des Kapitals vereinbar ist. Kapitalvernichtung ist angesagt und
weitere Freisetzung von Arbeitskräften, da diese zu produktiv für das Kapital
geworden sind. Nicht Faulheit ist das Problem, sondern zu großer "Fleiß".
Die jetzige Krise in
Deutschland begann 2001. Dank der vorausschauenden Senkung des Körperschaftssteuersatzes
konnte 2001 die Nettoumsatzrendite in Verarbeitendem Gewerbe, Handel und Verkehr
trotz Krise bei 2% gehalten werden. (Monatsberichte Deutsche Bundesbank April
2003, 53) 2002 wird sie wahrscheinlich trotzdem gefallen sein.
Produktivität unter der Regie
des Kapitals führt
6) zu Finanzkrisen
Weil die Renditen nicht mehr
stimmen, weiß das Kapital immer weniger mit sich anzufangen. Die
Nettoinvestitionen der nicht-finanziellen Kapitalgesellschaften sanken trotz
steigender Gewinne zwischen 1991 und 2000 um 15,2%. Die Bundesbank spricht von
Investionsmüdigkeit.
Das Kapital wird in wachsendem
Maße arbeitslos und wandert in Finanzanlagen ab. Die Investitionen in
Finanzanlagen, d.h. in Kredite, festverzinsliche Wertpapiere, Aktien,
Investmentfonds usw.. nahmen von 1991 bis 2000 von 8.220 Mrd. DM auf 20.880 Mrd.
DM zu. Auch wenn man die durch den Aktienboom aufgeblasenen Kurssteigerungen
abzieht, bleibt ein gewaltiger Reichtum, beflügelt durch die technologische
Revolution, auf dessen Grundlage jedermann sein Auskommen haben könnte.
Aber der Reichtum interessiert
sich nicht für die Lebensperspektive von Arbeitslosen, für die Entwicklung
menschlicher Fähigkeiten und Möglichkeiten im allgemeinen, erst recht nicht für
Menschenrechte. Sein Menschenrecht ist seine maximale Verwertung. Er filtert
alle menschlichen Lebensäußerungen danach, ob sie Kapital vermehren. Denn der
Reichtum ist kein Schatz, sondern Kapital, angehäuft in privater Hand, das sich
verwerten will. Kapital, auch wenn es die Form von Geld hat, interessiert sich
nur für sich selbst, für die Prozentsätze, die irgendwo abfallen, wenn es
sich anlegt.
Geld ist zwar genug da, aber
Geld ist Ausdruck des Problems, nicht seine Lösung. Es ist nur
Durchgangsstadium der Kapitalverwertung und gleichzeitig deren Endprodukt. Geld
ist zwar Zahlungsmittel für die Konsumenten, in erster Linie aber ist es
Kapital, mit dem Sachinvestitionen getätigt und Arbeitskräfte gekauft werden,
durch deren Nutzung mehr Geld herauskommen soll, als man hineingesteckt hat.
Oder es drückt den Umfang des Eigentums aus.
Kapital schreit nach seiner
Vermehrung als Selbstzweck, nach Renditen, nicht nach sozialer Gerechtigkeit und
der Befriedigung der Lebensbedürfnisse der LohnarbeiterInnen. Jede Anlage ist
wertvoller, auch wenn sie riskant ist und zu Verlusten führt, denn immerhin
sind Profite möglich. Die Ernährung von Menschen aber, die keinen Profit
abwerfen, ist das Letzte, wonach das Kapital strebt.
Viele LohnarbeiterInnen,
besonders diejenigen, die nicht oder nicht mehr arbeiten, wissen nicht, woher
mit dem Geld. Das Wirtschaftssystem dagegen bzw. die Eigentümer des
Kapitals wissen nicht, wohin mit dem Geld. Ein absurdes System, das
gleichzeitig eine Massenarbeitslosigkeit des Kapitals und der Arbeitskräfte
erzeugt, gleichzeitig tendenziell fallende Profitraten und einen tendenziell
fallendenen Lebensstandard der LohnarbeiterInnen.
Die steigende Produktivität
trifft gewissermaßen arm und reich.
Sie untergräbt nicht nur die
Existenzsicherheit der LohnarbeiterInnen, sondern auch die Sicherheit der
Kapitalverwertung selbst.
Schlußfolgerungen
Je stärker sich die selbst
gelegte Schlinge fallender Profitraten um den Hals des Kapitals zusammenzieht,
desto wilder schlägt es um sich. Es muss sich Luft verschaffen, besonders dann,
wenn es sich in eine Krise hineinmanoeuvriert hat.
Den Druck auf die Profitraten
verwandelt das Kapital in Druck auf die Gewinnsteuern und die entsprechende
Senkung der Staatsausgaben, in Druck auf die Löhne, auf die
Sozialversicherungsbeiträge, auf Renten, Gesundheitsausgaben und
Arbeitslosenunterstützungen. Also in seine Agenda, ob nun 2010 oder 2020
oder 2030. Zu diesem Zweck müssen die LohnarbeiterInnen schuldig gesprochen
werden, da sie diesem Ziel, nämlich der Senkung des Lebensstandards, im Wege
stehen. Das Kapital muss die Arbeitslosen bekämpfen statt der Arbeitslosigkeit,
die Armen statt der Armut. Zu dieser Politik hat das es keine Alternative.
Die Krise der Staatsfinanzen
und der Sozialversicherung wird nicht durch die besitzstandsgeilen
LohnarbeiterInnen, die lebenslustigen Alten, die demografische Entwicklung, die
faulen Arbeitslosen und die Florida-Rolfs und Viagra-Kalles hervorgerufen. Sie
wird auch nicht durch Politiker und auch nicht durch das Ausland erzeugt bzw.
die sogenannte Globalisierung. Sie entspringt aus der Logik der
Kapitalverwertung im eigenen Land. Sie entsteht im Zentrum dieser
Wirtschaftsordnung.
Wenn aber das Kapital für die
Krise verantwortlich ist, dann müsste es vom Standpunkt der LohnarbeiterInnen
aus auch für die Folgen aufkommen. Wenn das Kapital mit immer weniger Menschen
etwas anfangen kann, dann soll es sie auch anständig versorgen. Ein
ausreichendes Grundeinkommen ist notwendig für alle Arbeitslosen, alle
RentnerInnen usw. und ein ausreichender Mindestlohn für alle LohnarbeiterInnen.
Nur der Widerstand der
LohnarbeiterInnen, wenn er tatkräftig organisiert wird, kann dem Sozialabbau
Schranken setzen. Inwieweit sich der Sozialabbau durchsetzt, ist immer auch eine
politische Frage. Sein Ausmaß hängt von der Mobilisierungsfähigkeit der
LohnarbeiterInnen ab. Gewerkschaftsführungen, die sich mehr dem Kapital
verpflichtet fühlen, hemmen diese Mobilisierungsfähigkeit und tragen damit zum
Sozialabbau bei.
Es ist von daher notwendig,
sich innerhalb und außerhalb der Gewerkschaften selbständig zu organisieren,
um überhaupt eine gegenüber dem Kapital selbständige Politik entwickeln und
umsetzen zu können. Nur deswegen, weil das in Keimformen existiert, war es möglich,
dass sich Kräfte gefunden haben, die zu einer bundesweiten Demonstration gegen
die Agenda 2010 am 1. November in Berlin aufrufen, obwohl die DGG-Führung der
Agenda 2010 keinen Widerstand mehr auf der Straße entgegensetzen will und sie
faktisch akzeptiert.
Das Kapital strebt an, Löhne
und Sozialleistungen solange zu senken, bis es sich rentiert, auch noch die
letzte Arbeitskraft zu kaufen. Das ist seine Lösung der Krise. Eine Zustimmung
zum gegenwärtigen Sozial- und Lohnabbau fördert den Sozial- und Lohnabbau der
Zukunft und beschleunigt ihn.
LohnarbeiterInnen, die sich
dagegen nicht wehren und die die Zusammenarbeit der DGB-Führung mit dem Kapital
akzeptieren, haben ihre Selbständigkeit verloren. Sie wären im wahrsten Sinne
des Wortes nur noch Arbeitssklaven.
Aber auch wenn durch hartnäckige
Kämpfe Erfolge erzielt würden, z.B. ein ausreichendes Grundeinkommen für
alle, z.B. in Form von Mindestlöhnen, die zum Leben reichen, Grundrenten, die höher
sind als die Armutsgelder der Sozialhilfe, eine ausreichende Grundsicherung für
alle Arbeitslosen für die gesamte Dauer der Arbeitslosigkeit usw.:
die Logik der
Kapitalverwertung würde trotzdem das Fundament dieser existenzsichernden
Einkommen untergraben. Denn auch in Zukunft fördert das Kapital die Entwicklung
der Produktivität, indem es Raubbau am Menschen und an der Natur betreibt.
Einerseits werden die technischen Voraussetzungen für ein schönes Leben
geschaffen, andererseits aber kann das Kapital die menschlichen Produktivkräfte
im Verhältnis zu ihren Möglichkeiten immer weniger nutzen. Die Produktivität
entwickelt unter der Regie des Kapitals gewaltige zerstörerische Kräfte, die
das, was man soziale Sicherheit nennt, immer mehr untergräbt. Dieses Problem
kann nicht mehr innerhalb des Lohnsystems gelöst werden, so sehr die
LohnarbeiterInnen ihre Interesse als LohnarbeiterInnen verteidigen müssen. Wenn
das Kapital im Rahmen der Lohnarbeit immer weniger menschliche Arbeitskraft
braucht, stellt es die Lohnarbeit selbst in Frage.
Noch ein paar Worte zum Thema
Menschenrechte
Das Recht auf Arbeit und
Schutz vor Arbeitslosigkeit ist in der UN-Charta der Menschenrechte verankert.
Die Gleichstellung der Frau
mit dem Mann, die Beseitigung der Diskriminierung von Behinderten steht im
Grundgesetz.
Clement will die
Arbeitslosigkeit bis 2008 beseitigen, Schröder will die nachhaltige Sicherung
des Sozialstaates durch die Agenda 2010, Eichel will die Beseitigung der
Staatsverschuldung usw..
All das ist aber letztlich mit
dem Warencharakter der Arbeitskraft, der Lohnarbeit, die der Kapitalverwertung
dient und den bestehenden Eigentumsverhältnissen unvereinbar.
Kaum einer kennt die
UNO-Menschenrechtscharta, in der das Recht auf Arbeit bzw. auf Schutz vor
Arbeitslosigkeit festgeschrieben ist. Und die Bundeswehr würde sich dafür
nicht in Bewegung setzen. Diese formulierten Rechte sind in Wirklichkeit keine
Rechte. Sie sind nicht vor Gericht einklagbar. Es sind Proklamationen von Zuständen,
die sein müssten, aber noch nicht sind. Sie zeigen an, dass die Zeit für ihre
Durchsetzung reif wäre, zeigen aber auch, dass die vom Kapital
aufrechterhaltenen Bedingungen, die Eigentumsverhätnisse und die Unterordnung
aller Lebensbedürfnisse unter die Zwecke der Kapitalverwertung dem
entgegenstehen.
Solange Menschen darauf
reduziert werden, dass sie ihre Arbeitskraft als Ware auf einem Markt namens
Arbeitsmarkt verkaufen müssen, werden sie nicht in erster Linie als Menschen
respektiert, sondern nach ihrer Verwertbarkeit eingestuft.
Die Diskriminierung all derer,
die aufgrund ihrer spezifischen Eigenschaften für das Kapital nicht oder nicht
genug produktiv sind, ist darin eingeschlossen.
Die Mißachtung der Bedürfnisse
von Kindern, die Nicht-Verwirklichung der Gleichstellung von Mann und Frau trotz
GG, die Diskriminierung von Behinderten und Alten, die Vernachlässigung der
Jugend usw. ist die notwendige Folge des Warencharakters der Arbeitskraft, d.h.
der Lohnarbeit, die im Verkauf der Arbeitskraft als Ware besteht. Das Streben
nach Selbstentfaltung äußert sich auch innerhalb der Lohnarbeit und führt
u.a. zu einer rechtlichen Anerkennung der Gleichstellung der Frau mit dem Mann,
obwohl der Warencharakter der Arbeitskraft der Frau im Grundsatz keine
Gleichstellung zulässt.
Indem Menschen für ihre
Selbstentfaltung kämpfen, stoßen sie darauf, dass heute der Mensch nicht im
Mittelpunkt der Wirtschaft steht. Sie sehen sich gezwungen darübe nachzudenken,
wie eine Gesellschaftsordnung aussehen könnte, in der der Mensch im Mittelsteht
und z.B. die Verwirklichung des Rechts auf Arbeit oder des Schutzes vor
Arbeitslosigkeit möglich wäre.
In jeder Gesellschaftsordnung
sind die herrschenden Interessen mit den Interessen der Eigentümer identisch.
Das Kapital weiß, dass die Produktivität steigt, wenn sich LohnarbeiterInnen
als EigentümerInnen fühlen, auch wenn sie es nicht sind. Eine Studie des
Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim ergab, dass die
Produktivität in Unternehmen, die den ArbeitnehmerInnen einen gewissen Einfluß
auf Betriebsabläufe zugestehen, und die Betriebsräte haben, die
vertrauensvolle Beziehungen zum Management pflegen, wesentlich höher ist als in
Unternehmen ohne Betriebsräte. (FR 11.09.2003)
Schon die Illusion, sich wie
Unternehmer zu fühlen, erhöht die Produktivität der Arbeitenden. Um wieviel
stärker würde ihre Produktivität steigen, wenn sie tatsächlich Eigentümer wären.
Indem sie das Kapital stärken, letztlich erhöhen jedoch die LohnarbeiterInnen
insgesamt ihre Existenzunsicherheit und arbeiten letztlich daran, ihren
Lebensstandard zu senken. Um die Früchte ihrer wachsenden Produktivität für
sich nutzbar machen zu können, müssten sie aus LohnarbeiterInnen zu realen
Eigentümern werden. Dann kann auch der Mensch im Mittelpunkt stehen, statt wie
heute nur ein Spielball nicht beherrschbarer Sachzwänge zu sein, die sich aus
der Natur der Kapitalverwertung ergeben.
Es müssten Verhältnisse
geschaffen werden, in denen sich die Produktivität nicht gegen die Mehrheit der
Menschen richtet.
Diese Frage wird dringender,
je weniger Menschen noch für die Zwecke der Kapitalverwertung gebraucht werden
und je mehr die, die nicht gebraucht werden, als Last betrachtet und
entsprechend angegriffen werden.
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