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Rainer Roth, Rede auf einer Veranstaltung des Rhein-Main-Bündnisses
gegen die Umsetzung der Hartz-Pläne
Frankfurt, den 26.03.2003
Zu den ökonomischen Hintergründen der
Hartz-Reformen
I
Im August 2002, mitten in der gegenwärtigen Wirtschaftskrise, fand die
Hartz-Kommission heraus, wo die wahren Ursachen der Arbeitslosigkeit liegen. Sie
liegen bei den Arbeitslosen selbst. Die 4,7 Millionen Arbeitslosen bekommen zu
viel Geld. Also muss man es ihnen nehmen. Sie bemühen sich nicht ausreichend
darum, die 390.000 offenen Stellen zu besetzen. Also muss man sie mehr dazu
zwingen. Aber auch die Arbeitsverwaltung ist schuld. Sie vermittelt die
Arbeitslosen nicht schnell genug auf die fehlenden 6 Millionen Arbeitsplätze.
Kolleginnen und Kollegen, die ganze Richtung der Hartz-Gesetze stimmt nicht.
Nicht Arbeitslose und ihre Sachbearbeiter sind verantwortlich für Krise und
Arbeitslosigkeit, sondern das Wirtschaftssystem selbst. Die Krise ist nicht das
Ergebnis einer plötzliche auftretenden Faulheitswelle. Es ist das Kapital
selbst, das immer wieder zu viel produziert, zu viel Waren, zu viel Kapital, als
dass es sich bei beschränkter zahlungsfähiger Nachfrage noch rentabel
verwerten ließe. Das überschüssige Kapital muss in Krisen vernichtet werden.
II
Das Kapital erklärt nicht nur die Arbeitslosen selbst für schuldig, sondern
vor allem die 34 Millionen Beschäftigten. Der Präsident des Bundesverbandes
der deutschen Industrie zu den Ursachen der Arbeitslosigkeit: "Der
Preismechanismus, das zentrale Steuerungselement in einer Marktwirtschaft,
funktioniert auf dem Arbeitsmarkt nur unzureichend." (Rogowski in: FR
09.06.2001) Übersetzt heißt das: Der Preis der Ware Arbeitskraft muss so lange
fallen, bis alle Arbeitskräfte einen Käufer gefunden haben. Da die
LohnarbeiterInnen sich dagegen wehren, gelten sie als eigentliche Ursache der
Arbeitslosigkeit. Laut Meinhard Miegel müsste der Bruttolohn um ein Drittel
sinken, um die Arbeitslosigkeit zu halbieren. (Miegel, Arbeitslosigkeit in
Deutschland - Folge unzureichender Anpassung an sich ändernde wirtschaftliche
und gesellschaftliche Bedingungen, Bonn 2001, 107) Der sogenannte
Gleichgewichtslohn, bei dem die Marktwirtschaft verwirklicht und Angebot und
Nachfrage nach Arbeitskraft im Gleichgewicht wären, dürfte dann bei weniger
als der Hälfte des jetzigen Bruttolohns liegen.
Auch die Hartz-Gesetze erklären die LohnarbeiterInnen für schuldig.
Lohnsenkungen werden über den Ausbau der Leiharbeit, der geringfügigen Beschäftigung,
der Scheinselbständigkeit in Form von Ich-AG's und der sogenannte
Lohnversicherung für Ältere usw. gefördert. All das verdrängt normal Beschäftigte.
Die Ursache der Arbeitslosigkeit besteht aber nicht darin, dass jemand von
seinem Lohn seine Miete bezahlen oder in Urlaub fahren möchte. Sie liegt darin,
dass Arbeitskräfte in der Regel nur dann arbeiten dürfen, wenn irgendein
Kapitalbesitzer aus ihrer Nutzung Profit ziehen kann.
Doch indem das Kapital die Arbeitsproduktivität so schnell vorantreibt wie
selten zuvor, macht es genau diejenigen überflüssig, die seine Profite erst
produzieren. Es zieht sich selbst den Boden der Profite unter den Füßen weg.
Und doch kann es nicht anders. Es muss sich verwerten, sonst wäre es kein
Kapital mehr. Hier liegt das Problem, nicht bei der Höhe der Löhne.
III
Die Tarifverträge stehen Lohnsenkungen im Weg, aber auch die Sozialhilfe.
"Die deutsche Sozialhilfe wirkt als Lohnuntergrenze, die die Schaffung von
Jobs verhindert." So Prof. Dr. Hans-Werner Sinn vom Ifo-Institut in München.
(ifo standpunkt Nr. 21 vom 18.01.2001) Ihm schweben Löhne von etwa 870 Euro
brutto im Monat für Männer und 660 Euro brutto für Frauen vor, also 4-5 Euro
die Stunde, um ein "Jobwunder" zu erzeugen.
Die Bereitschaft, für Hungerlöhne zu arbeiten, muss man erzwingen. Deshalb
verlangt Stoiber die Kürzung der Sozialhilfe für Arbeitsfähige um 25%. Der
Sachverständigenrat der Bundesregierung ist bei 30%, andere schon bei 50%. Nur
wer von Hunger und Obdachlosigkeit bedroht ist, ist bereit für Hungerlöhne zu
arbeiten.
Was hat das mit Hartz zu tun? Die Hartz-Gesetze sind nur ein Zug im Schachspiel
des Sozialabbaus, um die LohnarbeiterInnen matt zu setzen. Möglichst viele
Arbeitslose sollen auf das Niveau der Sozialhilfe abstürzen. Dazu dient die
Befristung des Arbeitslosengeldes auf 12 Monate und die Senkung der
Arbeitslosenhilfe auf Sozialhilfeniveau. Sitzt erst mal die Hälfte der
Arbeitslosen in der Sozialhilfefalle, spätestens dann ist die Sozialhilfe
selbst dran. Stoiber verrät es.
Aber auch die Senkung der Sozialhilfe ist nur ein Übergangsstadium.
Strategisches Ziel der Arbeitgeberverbände ist die negative Einkommensteuer.
Die Finanzämter sollen mit Lohnzuschüssen aus Steuermitteln drastisch gesenkte
Löhne aufstocken. Vorbild sind die USA. In den USA gibt es jedoch (mit Ausnahme
der Sozialhilfe für Alleinerziehende) keinen einzigen Dollar Sozialhilfe für
Arbeitsfähige. Hier ist Arbeit statt Sozialhilfe in Vollendung verwirklicht. Möglichst
hohe Lohnzuschüsse und völlige Streichung der Sozialhilfe sind die günstigsten
Bedingungen für Lohnsenkungen, um gegenüber den USA "wettbewerbsfähig"
zu werden.
IV
Die Hartz-Gesetze sind ferner ein Mittel, die sogenannten Lohnnebenkosten zu
senken. Die Arbeitgeberverbände streben an, die Beiträge zur
Arbeitslosenversicherung von 6,5% auf 4% zu senken. Alle Kürzungen bei ABM-Maßnahmen,
Umschulungen, Weiterbildungen, Arbeitslosengeld, alle Arbeitslosen, die man mit
Schikanen aus dem Bezug verdrängt, werden umgerechnet in Euro. Und diese Summen
an Euro werden wiederum umgerechnet in Zehntelprozente und Prozentsätze, um die
der Sozialversicherungsbeitrag gesenkt werden könnte. Für zehn Milliarden Euro
mehr Profit, also dem erhofften eingesparten Arbeitgeberbeitrag von 1,25%, ist
das Kapital zu allem bereit. Und die Spitze der Arbeitslosenverwaltung auch.
Vor allem bei den Langzeitarbeitslosen wird gestrichen. Sie sind überwiegend älter.
Die Kürzungen sollen Arbeitsanreize sein. Aber wer will noch ältere Arbeitskräfte?
In 60% aller Betriebe gibt es niemanden mehr über 50. Das Kapital braucht
aufgrund des technischen Fortschritts immer weniger Menschen, um sich zu
verwerten. Diejenigen, die zu wenig Profit bringen (z.B. Ältere und
Jugendliche), wirft es als "Minderleister" über Bord.
Steigende Sozialversicherungsbeiträge sind nicht die Ursache, sie sind die
Folge der vom Kapital verursachten Arbeitslosigkeit.
Kürzungen, um die Beiträge zu senken, dienen folglich nicht der Bekämpfung
der Arbeitslosigkeit, sondern ausschließlich der Bekämpfung zu niedriger
Profite und Profitraten.
V
In diesem Jahr sollen die Arbeitsämter trotz Krise und steigenden
Arbeitslosenzahlen ohne Bundeszuschuss auskommen. Das zwingt zu brutalen Kürzungen.
Die Arbeitslosen sollen auch noch an der Krise der Staatsfinanzen schuld sein.
Und was ist mit den Kapitalgesellschaften, die 2001 und 2002 40 Mrd. Euro
weniger Steuern gezahlt und ihre Gewinne entsprechend erhöht haben? Nicht ein
einziger Arbeitsplatz wurde dadurch geschaffen. Der "Kampf gegen die
Arbeitslosigkeit" durch die Förderung von Investitionen war angeblich das
wichtigste Ziel der Steuerreform. 40 Mrd. Euro wurden den Konzernen und Banken
überlassen. Die Investitionen sackten trotzdem in den Keller.
Wir lehnen es ab, dass Arbeitslose für die staatliche Förderung der Profite
des Kapitals aufkommen sollen.
Die Gewinnsteuersenkungen müssen rückgängig gemacht werden.
VI
Die LohnarbeiterInnen sollen immer neue Opfer bringen. Hartz-Gesetze,
Gesundheits- und Rentenreform, Steuerreformen zugunsten des Kapitals, die
Angriffe auf den Kündigungsschutz, auf die Tarifverträge und auf die
Sozialhilfe haben alle nur ein Ziel: Das Kapital will sich einen möglichst großen
Teil der Löhne, der Sozialversicherungsgelder und der Steuern selbst aneignen.
Es will sie in Kapital verwandeln, um seine Profitkrise zu bewältigen.
Und es verspricht Arbeitsplätze, wenn es sie bewältigt haben sollte. Doch da
es sich mit steigender Produktivität selbst den Boden der Profite unter den Füßen
wegzieht, kann es seine Versprechungen nicht halten. Die Lage ist außer
Kontrolle.
Ein Ende der Spirale nach unten nicht abzusehen.
Was für ein Widersinn, dass die steigende Produktivität der LohnarbeiterInnen
dazu benutzt wird, sie überflüssig zu machen und ihre Existenzunsicherheit zu
erhöhen.
Wir wollen, dass die ungeheuere Produktivität der arbeitenden Menschen und der
von ihnen erarbeitete Reichtum dazu genutzt wird, die Arbeitszeit drastisch zu
verkürzen und allen ein befriedigendes Auskommen zu sichern. Eine andere Welt
ist möglich. Aber nicht mit den Hartz-Gesetzen.
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