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Wahlmöglichkeiten?
Nach Angaben der internationalen Arbeitsorganisation ILO sterben weltweit jedes
Jahr 2,3 Millionen Menschen durch "arbeitsbedingte" Krankheiten und
Arbeitsunfälle. Tag für Tag kommt es ferner zu 860.000 Verletzungen durch
Arbeitsunfälle. (Diese Zahlen dürften eher "geschönt" sein.)
I.
Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles meint dazu: "Es kann uns nicht
egal sein, dass in anderen Ländern Menschen sterben, weil die
Arbeitsbedingungen so schlecht sind, und wir die Billigprodukte ohne darüber
nachzudenken konsumieren." (FR vom 26.08.2014) Ja, es ist ein Drama mit
der Gedankenlosigkeit der "KonsumentInnen" hierzulande. Dabei fällt
auf, dass sie umso weniger nachdenken, je geringer ihr Geldeinkommen ist. Es
gibt auch im "wachsstumsstarken", vergleichsweise erfolgreichen
kapitalistischen Deutschland Millionen von Menschen, die aufpassen müssen, dass
am Ende des Geldes nicht noch allerhand Monat über ist.
Dazu zählen vor allem die Menschen, denen das Nachdenken mit Hilfe der
Arbeitsmarktreformen von SPD und Grünen ausgetrieben wurde, also all die Hartz
IV-BezieherInnen, all die, die vom Staat (Arbeitsagentur) dazu gezwungen werden,
jede Lohnarbeit anzunehmen, die nicht "sittenwidrig" ist. Dazu zählen
auch die vielen RentnerInnen, die mit ihrer mickrigen Rente gerade mal so über
die Runden kommen. (Es ließen sich noch mehr Opfer segensreicher Sozialpolitik
und kapitalistischer Marktwirtschaft aufzählen.) Gerade hat Frau Nahles ihr
wunderbares Mindestlohngesetz "durchgeboxt" und preist es in höchsten
Tönen. "Mindestens" 8,50 Euro die Stunde, steuerpflichtig, versteht
sich … und natürlich gilt "mindestens" nicht für alle. Ausnahmen
müssen gemacht werden, damit keine Arbeitsplätze in Gefahr raten. Sie sagen
"Arbeitplätze" und meinen Unternehmen in heiligem Privatbesitz, deren
"Wettbewerbsfähgkeit" und Rentabilität.
Frau Nahles meint offensichtlich, dass Leute mit 8,50 Stundenlohn vor Steuer,
NiedriglöhnerInnen aller Art etc., die Wahlmöglichkeit haben und sich gegen
den Konsum von Billigprodukten entscheiden können. Sie müssten nur gehörig
darüber nachdenken und können sich dann gegen die Billigprodukte und für die
teuren entscheiden! (Wobei keineswegs sicher gestellt ist, dass die teuren
Produkte mit weniger Toten und Verletzten produziert wurden.) Die Fakten lassen
nur zwei Interpretationen zu:
1. Frau Nahles hat selbst große Schwierigkeiten mit dem Nachdenken, nicht weil
es ihr an Geld mangelt, sie sich um das Nötigste sorgen muss, sondern weil es
ihr offensichtlich "zu gut geht".
2. Frau Nahles denkt sehr viel nach und überlegt sich, wie sie - den Tatsachen
zum Trotz - Leute für dumm verkaufen kann. Dann wählt sie wohlüberlegt ihre
Worte. Was dabei herauskommt, sind keine "Billigprodukte" aber
"Billigworte".
II.
ILO-Generalsekretär Guy Ryder meint dazu: "Viele Menschen haben nur die
Wahl zwischen Armut und lebensgefährlicher Arbeit." (FR vom 26.08.2014)
Auch Herr Ryder hat offenbar gar nicht oder sehr viel nachgedacht. Nimmt man
seine Aussage wörtlich, dann sind die Menschen, die die lebensgefährliche
Arbeit "gewählt" haben nicht arm. Die NäherInnen, die in Bangladesh
die Lohnarbeit mit dem Leben bezahlt haben, erstickt und verbrannt sind, waren
danach nicht arm! Sie hatten sich gegen die Armut und für die
lebensgefährliche Arbeit entschieden. Sie hatten gewählt! Vermutlich konnten
die Frauen auch wählen zwischen Billigprodukten und teuren Produkten.
Vermutlich haben auch sie nicht genügend nachgedacht.
(Frau Nahles lässt grüßen!) Arm jedenfalls waren sie nicht, das steht da
schwarz auf weiß! Fakt ist, dass viele Menschen in Ländern wie Bangladesh
nicht einmal die Wahl haben zwischen Armut und lebensgefährlicher Arbeit.
Solange die gesellschaftlichen Verhältnisse so bleiben, wie sie sind -
kapitalistisch, marktwirtschaftlich -, bleibt ihnen nur ein Doppelpack aus Armut
und lebensgefährlicher Arbeit. Wenn sie "Glück" haben ist das ein
Doppelpack aus Armut und Lohnarbeit, wenn sie "Pech" haben, müssen
sie durch andere Formen der Arbeit, als "Selbständige", an etwas Geld
kommen. Sehr viele Menschen haben nur "die Wahl" zwischen niedrigsten
Löhnen und noch weniger Geld in "Selbständigkeit". Lebensgefahr
besteht immer, weil fast alle Arbeit, die sie gezwungenermaßen machen müssen,
unter lebensgefährlichen Bedingungen stattfindet. Das kann man in allen
möglichen Zeitungen nachlesen, oder sich im Fernsehen anschauen.
Herr Ryder hat also entweder gar nicht darüber nachgedacht, was Armut ist, oder
er hat sehr viel und sehr lange darüber nachgedacht. Wenn letzteres der Fall
ist, dann hat er solange darüber nachgedacht, bis ihm Formulierungen
eingefallen sind, die wiederum die Leute für dumm verkaufen, weil danach
Menschen in Lohnarbeit nicht arm sein können.
Ich hoffe, dass Abraham Lincoln recht behält: "You can fool all the
people some of the time and some of the people all the time, but you cannot fool
all the people all the time." Sinngemäß übersetzt: Du kannst alle
Leute für eine begrenzte Zeit für dumm verkaufen und du kannst einige Leute
für alle Zeit für dumm verkaufen. Aber du kannst nicht alle Leute für alle
Zeit für dumm verkaufen.
Peter Trotzig
August 2014 | |
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