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Rainer Roth
Hartz IV erkennt biologische Grundbedürfnisse von
Kindern nicht an
Mit Einführung von Hartz IV im Januar 2005 kürzten SPD,
Grüne sowie CDU/CSU und FDP den Regelsatz von Schulkindern unter 14 auf
das Niveau von Säuglingen. Auch der Regelsatz der Jugendlichen von 14
bis 17 wurde um über 11% auf das Niveau des Regelsatzes von erwachsenen
Haushaltsangehörigen abgesenkt. Die Kürzung bedeutete, dass die
herrschenden Parteien ab dem Schulalter biologische Grundbedürfnisse
von Kindern, d.h. ihren Wachstumsbedarf, nicht mehr anerkannten. Die
Behauptung, kein Kind würde zurückgelassen, die Bildung aller Kinder
werde gefördert, erwies sich als bloße Phrase.
Die alte Sozialhilfe hatte Schulkindern unter 14 und Jugendlichen
aufgrund ihres höheren Energiebedarfs noch höhere Bedarfe zuerkannt.
Hartz IV beseitigte das und knüpfte an den Richtsatzerlass von 1941 an,
der bis Ende 1955 galt. Dieser rechnete sogar allen Schulkindern unter
16 Jahren den gleichen Bedarf zu wie Säuglingen. Der Bedarf aller
Personen über 16 wurde ebenfalls gleichgesetzt. Der Erlass schrieb die
in der Weimarer Republik vorherrschenden, von den Kommunen
festgesetzten Richtsätze reichseinheitlich vor.
SPD, Grüne und die Christenparteien rechtfertigten die Aberkennung
biologischer Grundbedürfnisse mit haltlosen Behauptungen. Das sei
„gerecht“ und „wissenschaftlich“, würde dem „soziokulturellen
Existenzminimum“ entsprechen, würde den Bedarf decken und müsste von
den Eltern eben durch Einsparungen bei anderen Ausgaben ausgeglichen
werden (vgl. Hartz IV, „Fördern durch Kürzen“, Juli 2008, 12-17,
www.kinderarmut-durch-hartz4.de).
Widerstand
Der Widerstand gegen Hartz IV richtete sich zu Anfang vor
allem gegen den herunter manipulierten Eckregelsatz. Von seiner Höhe hängen
ja auch die Kinderregelsätze prozentual ab. Wohlfahrtsverbände,
Gewerkschaftsführungen und Kinderschutzverbände machten den „Skandal
Kinderarmut“ nicht an der Aberkennung des Wachstumsbedarfs von Kindern
ab dem Schulalter fest, sondern an der sprunghaft gewachsenen Zahl armer
Kinder und der Behandlung der Kinderbedarfe als Prozentsätze des
Eckregelsatzes.
Anfang 2008 bildete sich ein Bündnis gegen Kinderarmut durch Hartz IV,
bestehend aus dem Aktionsbündnis Sozialproteste, dem
Arbeitslosenverband, dem Erwerbslosenforum Deutschland, dem Rhein-Main-Bündnis
und Tacheles. Es brachte Ende April 2008 eine Plattform heraus, in der
die sofortige Rücknahme der Kürzung der Regelsätze von Kindern ab dem
Schulalter gefordert wurde (http://www.die-soziale-bewegung.de/2008/kuerzung_schulkinder/kuerzungen-bei-schulkindern-2009-03-09.pdf).
Die Plattform griff die vorgeschobenen Begründungen der Regierung an
und den Rückfall in die Zeit von Weimar und des Faschismus. Das Bündnis
stellte in der Plattform zwar fest: „Alle Regelsätze, auch die
von Erwachsenen, sind viel zu niedrig und müssen deutlich erhöht
werden,“ konzentrierte sich aber auf die gekürzten Kinderregelsätze,
weil es in der Aberkennung biologischer Grundbedürfnisse den schwächsten
Punkt der Regelsatzfestsetzung sah. Die Möglichkeit, wenigstens hier
einen Erfolg zu erzielen, schien am Ehesten gegeben.
Das Bündnis gegen Kinderarmut durch Hartz IV hat über 250
Organisationen, Organisationsgliederungen und Initiativen für die
Unterstützung der Plattform gewinnen können, darunter GEW und NGG.
Ferner wurden weit über 6.000 Unterschriften gesammelt.
Ablehnung zu unterstützen
Das Bündnis hat im Juni 2008 alle Bundestagsabgeordneten
aus CDU, CSU, SPD, FDP und Grünen die Frage gestellt, warum sie Kindern
ab dem Schulalter mit Hartz IV den Wachstumsbedarf aberkannt
haben. Es forderte sie auf, die Plattform zu unterschreiben und sich für
die sofortige Rücknahme der Kürzungen einzusetzen.
Wir erhielten Antworten u.a. von Merkel, Pofalla (CDU), Seehofer,
Singhammer (CSU), Oppermann (SPD), Niebel (FDP), Kurth, Künast
(Die GRÜNEN). Niemand hielt es für nötig, auf unsere Frage
einzugehen. Niemand war bereit, sich für die sofortige Rücknahme der Kürzungen
bei Schulkindern aus Armutsfamilien einzusetzen. Alle nutzten vielmehr
nur die Gelegenheit, uns die programmatischen Vorstellungen und die
Verdienste ihrer eigenen Parteien im „Kampf gegen Kinderarmut“ zu
erläutern. Motto: Bürger fragen – wir antworten nicht. Indirekt
jedoch wurde die Kürzung gerechtfertigt als Beitrag, "Familien
(zu) stärken und ihnen mehr Freiheit (zu) geben, selbst zu
entscheiden, wie sie ihr Leben organisieren." (Pofalla), "allen
Kindern gleiche Teilhabechancen zu ermöglichen" (Oppermann)
und den "Anreiz, durch Arbeit eigenes Einkommen zu
erwirtschaften,“ zu stärken (Niebel).
Später schrieben wir auch alle Abgeordneten der Linkspartei an. Nach
teilweise zähen Mailwechseln haben immerhin 18 ihrer 53 Abgeordneten
die Plattform unterschrieben. Typisch für Reaktionen war auch hier,
dass angeblich die Linke die Position des Bündnisses eh schon vertreten
würde. Das entsprach nicht den Tatsachen. Die häufig kuriosen Manöver
von MdB's aller Bundestagsparteien und unsere Antworten sind auf der
Website www.kinderarmut-durch-hartz4.de dokumentiert. Dort haben wir
auch zu den Positionen der Bundestagsparteien zur Kinderarmut in Bezug
auf unsere Forderungen Stellung genommen.
Kein Wohlfahrtsverband hat sich auf Bundesebene für die sofortige Rücknahme
der Kürzungen einsetzen wollen, folglich auch nicht die Nationale
Armutskonferenz. Stellvertretend erklärte die Vorsitzende des Paritätischen,
die ehemalige SPD-Landesministerin Merk: „Angesichts unseres im
Ergebnis deutlich weitergehenden … Ansatzes bitte ich um Verständnis,
dass wir keine Veranlassung sehen, die in der Kampagne erhobenen
Forderungen nach einer schlichten Rücknahme der Kürzung zu unterstützen.“
Nur einen „weitergehenden Ansatz“ zu verfolgen, bedeutete aber, die
Linderung des Problems in eine ungewisse Zukunft zu verschieben
und sie Kommissionen zu überlassen, die noch gar nicht existieren.
Bei links stehenden Menschen war die Haltung weit verbreitet, dass es
sich nicht lohne, für die Rücknahme einer monatlichen Kürzung von 35
Euro bei Kindern zu kämpfen. Notwendig sei viel mehr z.B. die
Abschaffung von Hartz IV, ein bedingungsloses Grundeinkommen, eine
Kindergrundsicherung, eine völlige Neuermittlung des Kinderbedarfs usw.
Dass angesichts der Schwäche der sozialen Bewegung gerade die
Teile von Hartz IV angegriffen werden sollten, bei denen die Regierung
am Schwächsten ist, stieß auf breites Unverständnis. Die Aberkennung
des Wachstumsbedarfs von Kindern ist ein solcher Punkt. Andere
kritisierten, wir würden die Erwachsenen vergessen bzw. die Alten usw.
und unterstützten deshalb unsere Forderung nicht. Die Beschränkung auf
ein Teilziel, um den notwendigen Druck ausüben zu können, bedeutete für
das Bündnis jedoch keinesfalls, dass weitergehende bzw. andere
Forderungen fallen gelassen oder nicht weiterhin vertreten werden
sollten.
Der DGB-Bundesvorstand lehnte wie andere auch die Unterstützung der
Plattform ab, weil wir angeblich einen „grundfalschen historischen
Vergleich“ mit Weimar und dem Faschismus vorgenommen hätten. Die
Gleichsetzung des Bedarfs von Schulkindern mit Säuglingen, die
deutschlandweit von 1941 bis 1955 galt, ist eine unbestreitbare Tatsache
und nicht ein falscher Vergleich von politischen Systemen. Diejenigen,
die sich darüber empören, nehmen damit SPD, CDU/CSU und Grüne aus der
Schusslinie, obwohl sie objektiv auf den Richtsatzerlass von 1941 zurückgegriffen
haben.
Der Vorsitzende von ver.di war besonders originell. Er ließ über seine
Büroleiterin mitteilen: „Die Gewerkschaft ver.di widmet sich dem
Thema Bekämpfung der Kinderarmut über die Forderung nach Einführung
eines gesetzlichen Mindestlohns.“ Ein Stundenlohn von 7,50 Euro
brutto, der nicht einmal reicht, Lohnempfänger selbst aus dem Hartz
IV-Niveau herauszubringen, soll auch noch der „Bekämpfung der
Kinderarmut“ dienen. So viel Unsinn kann einem die Sprache
verschlagen.
Fast alle Medien haben unsere Kampagne und unsere Pressemitteilungen
vollständig ignoriert. Sie wollten die Aberkennung des Wachstumsbedarfs
von Kindern durch die herrschenden Parteien nicht zum Thema machen.
Unsere eigene Website war das wichtigste Medium, die Forderungen der Öffentlichkeit
zur Kenntnis zu bringen. Hier konnte unsere Meinung nicht unterdrückt
oder verfälscht werden. Entsprechend sauer waren Vertreter der
Linkspartei und der Grünen, die unter dieser Meinungsfreiheit gelitten
haben. Mediale Unterstützung gab es nur bei einigen alternativen
Radiosendern und anderen Websites.
Warum die massive Ablehnung unserer Forderung, Selbstverständliches
anzuerkennen? Unabhängig von den subjektiv vertretenen Absichten: Die
verantwortlichen Regierungsparteien wurden aus der Schusslinie genommen.
Die Ablehnung, dieses Thema aufzugreifen, hält auch unter dem Teppich,
dass die Kürzung letztlich erfolgt ist, um dem Interesse des Kapitals
an Lohnsenkungen nachzukommen. Motto: „Klar ist, je höher die
Grundsicherung ausfällt, umso mehr sinkt die Bereitschaft, auch zu
einem geringeren Lohn zu arbeiten“ (FAZ 05.12.2007). Gerade bei
Kindern muss also gekürzt werden. Die Aberkennung des Wachstumsbedarfs
von Kindern wirft ein schlechtes Licht auf die „soziale
Marktwirtschaft“.
Angesichts der massiven Widerstände gegen die Forderung nach Rücknahme
der Kürzungen der Kinderregelsätze bzw. der Zurückhaltung, offen für
sie einzutreten, hat das Bündnis gegen Kinderarmut durch Hartz IV mit
geringen Kräften eine maximale Wirkung erzielt.
Es ist sehr positiv, dass zahlreiche Gruppierungen von Erwerbslosen und
Gewerkschaftsgliederungen sich dem herrschenden Interesse nicht
unterordnen wollten. Das trifft auch auf eine Reihe von Ortsverbänden
der Linken zu. Allerdings haben viele Verbände die Plattform nur
unterschrieben, ohne wirklich etwas dafür zu tun. Sonst wären
erheblich mehr als 6.000 Unterschriften gesammelt worden.
Erfolg
Im Januar 2009 gaben Christenparteien und SPD nach und
nahmen die Kürzung bei Schulkindern unter 14 weitgehend zurück. Sie
gestehen ihnen ab 1. Juli 2009 (nach der Erhöhung des Eckregelsatzes
auf 359 Euro) 251 € statt der geforderten 260 € zu. Sie hoben sogar
den Regelsatz von 6-Jährigen von 60 auf 70% des Eckregelsatzes an, ohne
dass es gefordert war. Die haltlosen Rechtfertigungen wurden (vorübergehend)
begraben. Der Verweis auf Flachbildschirme, Alkohol und Zigaretten, in
die Eltern jede Erhöhung eines Kinderregelsatzes angeblich sofort
umsetzen würden, verschwand wieder in der Demagogen-Trickkiste.
Allerdings wurde der Regelsatz nicht angehoben, um das Wachstum von
Kindern zu fördern. Als Teil des Konjunkturpakets II sollte die
Wiederanhebung ausschließlich das Wachstum (und die Renditen) der
Wirtschaft fördern. Deshalb wurde sie auch bis 2011 befristet.
Wachstumsbedarf ist bekanntlich nicht befristet, wohl aber die gegenwärtige
Krise.
Dennoch: die Rücknahme dieser Kürzung ist der z.Zt. bedeutendste
praktische Erfolg aller, die gegen das Regelsatzniveau von Hartz IV kämpfen.
Auf der Basis des Drucks aller gegen Kinderarmut kämpfenden Kräfte hat
die Zuspitzung durch die Plattform des Bündnisses den Ausschlag dafür
gegeben, dass wenigstens ein Kinderregelsatz wieder
angehoben wurde.
Auch Jugendliche haben einen Wachstumsbedarf
Die Bundesregierung hält jedoch die Kürzung des
Regelsatzes von Jugendlichen auf den von erwachsenen Haushaltsangehörigen
aufrecht. Nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Ernährung haben
Jugendliche im Alter von 14 bis 17 Jahren einen durchschnittlichen
Kalorienbedarf von 2.700 kcal, Erwachsene aber nur von 2.200 kcal.
Dieser Aufbaubedarf rechtfertigt, wie in der früheren Sozialhilfe
anerkannt, einen höheren Regelsatz als den von erwachsenen
Haushaltsangehörigen. Das wird von der Bundesregierung weiterhin
abgestritten. Von der Leyen gab als Begründung für die Kürzung an,
mit höheren Kinderregelsätzen „würde Armut zementiert, weil der
Anreiz fehle, Arbeit aufzunehmen“ (tagesspiegel 02.02.2009). Die
Anerkennung des Wachstumsbedarfs von Jugendlichen fördert also
angeblich die Faulheit der Eltern und der Jugendlichen selbst. Die
Arbeitslosigkeit steigt, weil Banken sich verzockt und Konzerne ihre Überkapazitäten
abreißen, und die „Familien“ministerin phantasiert über die
„freiwillige Arbeitslosigkeit“ der Eltern, weil es ihren Kindern zu
gut ginge.
Das Bündnis gegen Kinderarmut hat am 14. März 2009 in über 50 Städten
und Orten einen Aktionstag durchgeführt. Unsere Hauptforderung war,
auch die Streichung des Wachstumsbedarfs von Jugendlichen zurückzunehmen.
Ein darauf bezogenes Flugblatt kann kostenlos bezogen werden (info@klartext-info.deDiese
E-Mail-Adresse ist gegen Spambots geschützt! Sie müssen JavaScript
aktivieren, damit Sie sie sehen können.). Die Bundesregierung
muss gezwungen werden, wenigstens grundsätzlich das Selbstverständlichste
vom Selbstverständlichen ausdrücklich wieder anzuerkennen, dass nämlich
Kinder die Eigenschaft haben zu wachsen, bis sie erwachsen sind.
Wie weiter?
Die regierenden Parteien haben ihre Grundeinstellung, die
Ausgaben für Armutsfamilien nach Möglichkeit zu beschneiden, in keiner
Weise aufgegeben. Zu einem Eingeständnis, dass es falsch ist, Grundbedürfnisse
von Kindern nicht zu befriedigen, sind sie nicht fähig. Entscheidend
ist für sie, die Kapitalverwertung zu stärken, d.h. Druck auf
die Senkung von Löhnen aufzubauen und den „Steuerzahler“ zu
schonen, d.h. neue Gewinnsteuersenkungen zu ermöglichen und Schulden
abzutragen. Das wird zu einer neuen Offensive zu Regelsatzsenkungen nach
den Bundestagswahlen führen, um die Folgen der Krise auch auf die
Armutsfamilien abzuwälzen.
Die Initiatoren des Bündnisses gegen Kinderarmut durch Hartz IV sind
sich einig, dass sie ihren Schwerpunkt auf die Erhöhung des
Eckregelsatzes auf mindestens 500 Euro verlagern müssen, kombiniert mit
der Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn von mindestens zehn
Euro. Die Forderung nach der sofortigen Rücknahme der Kürzung bei
Jugendlichen bleibt bestehen. Ein entsprechendes Flugblatt wurde am 1.
Mai in weit über 30 Städten und Orten verteilt (http://www.die-soziale-bewegung.de/2009/regelsatz/500Euro_Eckregelsatz.pdf
)
Dieser Aufsatz wird in folgendem Buch erscheinen:
Werner Rügemer (Hrg.): "Arbeits-Unrecht. Anklage und
Alternativen"
Verlag Westfäl. Dampfboot, Münster, Oktober 2009
250 Seiten, ca. 24 Euro |
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